Um ein Geschenk festzuhalten, müssen die Hände leer sein.

«Das Alter hat mich mit den schönsten Jahren meines Lebens beschenkt. So bin ich für vieles entschädigt worden. Darüber freue ich mich jeden Tag ‹usinnig›.»

Steckbrief

Name: Elsi Wegmüller
Aufgewachsen in: Wolfhalden, Appenzell
Alter: 100 Jahre
Beruf: Webereimitarbeiterin
Im Alterszentrum Alenia seit: 2004

Guten Tag Frau Wegmüller, wie geht es Ihnen heute?
Mir geht es gut, danke. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich im Alter so schöne Jahre erleben darf.

Erst kürzlich haben Sie Ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?
Das war der schönste Tag meines ganzen Lebens. Viele Menschen haben mich überrascht und mir damit grosse Freude bereitet. Zusammen mit den Gästen haben wir gesungen. Ich wünschte mir die Lieder «Lobe den Herrn» und das «Tessiner Glöcklein» (Lied aus dem Maggiatal, Anm. d. Red.). Meine Enkeltochter hat uns auf dem Klavier begleitet. Zum Schneewalzer tanzte ich mit einem guten Freund und ehemaligen Spielkameraden meines Sohnes, der für meinen Geburtstag extra aus Nottingham angereist war. Allerdings habe ich vom Lied nicht viel mitbekommen, weil ich mich während des ganzen Tanzes darauf konzentrieren musste, ihm nicht auf die Füsse zu treten.

Seit vielen Jahren wohnen Sie an der Bahnhofstrasse; was gefällt Ihnen am Zusammenleben in der Gemeinschaft, was weniger?
Ich geniesse vor allem den Luxus, dass ich zum Mittagessen nur noch an den Tisch sitzen, das Essen geniessen, mir danach den Mund abwischen und mich für mein Mittagsschläfchen in meine Wohnung zurückziehen kann; ohne Abwasch und vorherigen Einkauf. Das Frühstück und das Abendessen bereite ich mir selber zu. Ich stehe jeden Tag um sechs Uhr auf und erledige auch die Wäsche noch eigenhändig. Wenn man den Schritt macht und in eine Altersinstitution umzieht, muss man mit dem Vorherigen bewusst abschliessen und sich auf das Neue einlassen. Anfangs war es für mich auch nicht einfach, als Appenzellerin unter lauter Bernerinnen und Bernern. Aber ich ging einfach offen auf die Menschen zu, und so hat es geklappt mit der Integration.

Was würden Sie in Ihrem Leben anders machen, was nie mehr?
Nach einer ersten Anstellung in der Schweizerischen Seidengazefabrik folgte ein Ausflug in die Medizin. In der Diakonie Bethanien in Zürich diente ich den Kranken. Während dieser Zeit erkrankte meine Mutter an Krebs. So war der Moment gekommen, nach Hause zurückzukehren und ihr beizustehen. Nach ihrem Tod hielt ich es dort aber fast nicht mehr aus. Mein Vater hatte nie Kinder gewollt. Nun, da meine Mutter nicht mehr war, kam ich mir unerwünschter denn je vor. Zum Glück hatte ich noch meine Arbeit in der dorfeigenen Buntweberei. Die Inhaber und die anderen Mitarbeiter waren wie eine Ersatzfamilie für mich. Nach zehn Monaten musste der Betrieb leider schliessen. Rasch fand ich zwar wieder Arbeit im Textilbereich. Aber auch dieser Einsatz war nur von kurzer Dauer. Eines Abends, ich war alleine zu Hause, nahm ich das «Gelbe Heftli» zur Hand. Die Anzeigen mit den Herzenswünschen hatten es mir angetan. Nun fiel mir ein Inserat direkt auf: «Einsamer Berner sucht einsame Tochter zwecks baldiger Heirat.»

Sollte ich es wagen? Das könnte ein Neuanfang für mich werden mit einem Daheim und einem lieben Menschen. Ich schickte einen Brief mit einem Foto an den Unbekannten und erhielt prompt eine Antwort. Das erste Treffen fand am 14. Dezember 1955 im Zürcher Zoo statt. Und dann ging alles ziemlich schnell. Am 1. April 1956 verlobten wir uns, und am 12. Mai 1956 heirateten wir in Bregenz. Ich kam nach Gümligen, wurde aber in der Familie meines Mannes in keinster Weise willkommen geheissen. Nichts konnte ich ihnen recht machen. Zudem war die Wohnsituation schwierig. Die Schwiegermutter, der Bruder, zwei Schwestern und vier Kinder wohnten mit uns im selben Haus. Auch die finanzielle Situation machte mir zu schaffen. Ich hatte jahrelang eigenes Geld verdient, nun war ich finanziell abhängig. Aber ich wollte mich nicht unterkriegen lassen und vor allem für das Wohl meines Mannes sorgen. Nach ein paar Monaten zogen wir ins «Haleschlössli» um. Endlich waren wir für uns allein. 1958 und 1960 kamen unser Sohn und unsere Tochter zur Welt. Neun Jahre später hatten wir das Glück, in eine neue Vierzimmerwohnung im Melchenbühl einziehen zu können.

Das Leben hat mich gelehrt, dankbar und bescheiden zu sein. Mit Liebe und Anerkennung war ich weder als Kind noch in meinen jungen Jahren verwöhnt worden. Dann habe ich einen Mann gefunden, mit dem ich 42 Jahre verheiratet war und den ich bis zu seinem Tod geliebt habe. Das grösste Geschenk für uns waren unsere Kinder. So hat mich das Leben für vieles entschädigt.

Womit kann man Ihnen eine Freude bereiten?
Wenn man mit mir zusammen musiziert und meine Lieblingslieder singt. Oder wenn mich meine Enkeltöchter besuchen und wir gemeinsam einen Spielnachmittag verbringen. Sonst bin ich am liebsten allein mit meinen Handarbeiten. Ich liebe das Spiel mit den Farben; das Handarbeiten ist meine Welt.

Welche Lebenswünsche sind in Erfüllung gegangen, welche nicht?
Am allerliebsten hätte ich eine Ausbildung in der Textilbranche absolviert. In der kleinen privaten Buntweberei in unserem Dorf arbeitete ich mit drei ehemaligen Textilfachschülern zusammen. Ich war überglücklich, dass ich von ihnen lernen durfte.

Was möchten Sie unbedingt noch erleben?
Ich bin einfach glücklich, wenn ich zusammen mit lieben Menschen meine Lieblingslieder hören und singen kann.

Können Sie jungen Menschen für ihr Leben einen Tipp geben?
Man kann nicht immer auf seinem Recht beharren, manchmal muss man auch einfach nachgeben.

Monika Di Girolamo

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