Drei Räder zum Glück

Fahrradfahren befreit Geist und Seele. Umso mehr, wenn es in Gesellschaft passiert. Doch passt das gemeinsame Radeln zum Leben im Alter? Und wie es passt!

Schon seit einiger Zeit zieht sie die Blicke auf sich. Unübersehbar steht sie da: die knallrote Haube keck aufgesetzt, auf neuen schwarzen Gummisohlen, bereit für eine Fahrt ins Blaue. Alleine fahren aber will sie nicht. Zwei dürfen mitkommen, ihnen zeigt sie die wunderbarsten Strecken. Ein Weiterer muss den Chauffeur machen; ohne ihn bewegt sie sich nirgendwo hin. Ist sie eine Diva? Nein, ein eigenwilliges Geschöpf höchstens: Sie ist eine Rikscha, eine Velo-Rikscha, um genau zu sein. Drei Räder hat sie, vorne zwei, eines hinten. Denn so wird auch gesessen: vorne zu zweit, hinten alleine, dafür strampelnd, unterstützt vom Elektromotor. Sie verspricht unbeschwerte Stunden, diese Rikscha. Und sie wartet auf ihre erste grosse Fahrt im Alterszentrum Alenia.

Schon länger direkte Nachbarn, aber erst in der Rikscha am Plauschen.

Lions, stets zu Diensten

Die Ersten, die sie fahren wollen, haben sich bereits im Foyer des Hauses Worbstrasse versammelt. Sie sind Mitglieder des Lions Club Muri-Bern und sind zu sechst eingetroffen, um sich auf einer Probefahrt mit der Rikscha vertraut zu machen. Denn die Rikscha und die Lions, sie gehören zusammen. Der Club sponsert das Gefährt, das im Alterszentrum Alenia steht. Doch einfach nur Geld geben, das reicht den Lions nicht.

Markus von Gunten – gross gewachsen, freimütig, das Gesicht sonnengegerbt – dirigiert die Gruppe, die sich gerade in die Rikscha einweisen lässt. Als Mitglied der Activity-Gruppe der örtlichen Lions ist er zuständig für alle Unternehmungen des wohltätigen Clubs. Die Idee, mit dem Alterszentrum Alenia zusammenzuarbeiten, ist ihm damals quasi im Vorbeilaufen gekommen. Man müsse doch etwas machen, hat er sich gedacht, mit den Menschen, die da an Tischen sässen und warteten. So ist das Wunschprojekt entstanden (s. «Unter uns gesagt» 3/16), und seither stehen die Lions dem Alterszentrum Alenia zu Diensten. Als ihm Peter Bieri dann vor gut einem Jahr das Projekt «Radeln ohne Alter» vorstellt, ist Markus von Gunten begeistert. Das Prinzip ist einfach: Piloten tragen ihre Verfügbarkeit online ein; wer mitfahren will, meldet sich bei den Verantwortlichen des Alterszentrums, und sobald der Termin steht, rollt die Rikscha los. Das passe genau zum Motto des Lions Club – «We serve» –, meint Markus von Gunten, der beruflich eine Versicherungsagentur leitet. Gemeinsam mit über 30 weiteren Clubmitgliedern hat er sich bereit erklärt, die Rikscha zu fahren. Für ein Jahr, vielleicht auch für mehr.

Rollen ohne Rollator

Etwas am Rand und fast unbemerkt von den Männern, die eifrig die Rikscha studieren, sitzt eine ältere Dame, auf dem Schoss einen Sommerhut. Ursula von Steiger hat sich gemeldet, als man am Morgen in der Gedächtnistrainingsgruppe nach Testfahrerinnen gefragt hat. Nein, aufgeregt sei sie nicht, meint sie und lächelt entwaffnend. Sie könne bloss den «Zitteri» nicht abstellen. Sie zeigt auf ihre Hand. Die Krankheit, meint sie und lächelt wieder. Den Rollator neben sich habe sie vor etwa drei Jahren erhalten, nach einem Unfall. Mobil sei sie schon noch, beteuert sie. «Bis zum Bahnhof Gümligen schaffe ich es.» Was sie von der Ausfahrt heute erwarten soll? Sie weiss es nicht. Noch nicht.

Inzwischen hat sich der erste Pilot auf die Rikscha geschwungen und bewegt das Gefährt durch die schmale Schiebetür aus der Lobby. Hinter dem träge anrollenden Vehikel folgt Frau von Steiger und findet draussen auf einer Bank ihre Mitfahrerin. Nelly Lochbrunner beobachtet die Männer bereits gespannt, die jetzt neben ihr das dreirädrige Fahrradtaxi startklar machen. Die rote Haube ist schon abgenommen, für mehr Wind im Haar. Nein, so etwas wie diese Rikscha habe sie noch nie gesehen, und das, obwohl sie früher selbst Velo gefahren sei. «Rund um den Thunersee», betont sie. Eine Sache sei das gewesen! Auch sie hat einen Rollator neben sich stehen. Zu Fuss sei sie einfach nicht mehr so sicher heutzutage. Sie und ihre Banknachbarin – beide kennen sich nicht – mustern das exotische Gefährt und die sechs Fahrer, die noch ein letztes Mal beratschlagen und schliesslich den Ersten küren. Dann werden sie zur Rikscha gebeten.

Hinaus in den Tag

«Beim Einsteigen in Fahrtrichtung schauen», lautet die höfliche Anweisung von Markus von Gunten, der den beiden Mitfahrerinnen auf die Stoffsitze hilft. Während er den Sicherheitsgurt befestigt, richtet sich Ursula von Steigers Blick gen Himmel. Die Sonne blinzelt durch die Blätter, der Tag scheint plötzlich gross. Dann tritt der Fahrer in die Pedale, und die Rikscha biegt lautlos in die Nussbaumallee ein. «Wie das schön ist!», entfährt es Ursula von Steiger, die sich den Hut hält. Eine Gruppe Schüler reckt die Hälse nach der Rikscha, die schon wieder kehrtmacht und vor dem Eingang stoppt. Jeder der sechs soll üben, sich vertraut machen mit dem aussergewöhnlichen Dreirad. «Du musst nachgreifen!», ruft Markus von Gunten seinem Kollegen zu. In der Tat: Bei engen Kurven ragt der Lenkbügel der Rikscha weit nach aussen; wer sich stur dran festklammert, droht vom Sattel zu kippen. Der nächste übernimmt, inspiziert Handbremse, Schaltung und Rückspiegel, fährt los. Die Fahrgäste indes brauchen keine Einführung mehr: Sie halten einen Schwatz. Mühelos durch die Sommersonne zu gleiten – es scheint die Zunge zu lösen.

Schliesslich übernimmt Markus von Gunten das Steuer. Auch er fährt die Nussbaumallee hinab, doch anstatt zu wenden, hält er weiter geradeaus. «Ding-Dong» schellt die Glocke der Rikscha, als diese zwei Handwerker passiert, die sich verwundert den Schweiss von der Stirn wischen. «‹Potzheitere›, das ist mal was!», entfährt es einer Passantin; eine andere will sofort einsteigen. «Ein andermal!», meint der Fahrer nur, während das Gespräch vorne weitergeht. «Gnüsslich» sei das, findet Nelly Lochbrunner. Dann und wann zeigt ein Finger nach links auf einen Obstbaum am Wegesrand oder nach rechts zur Haco-Fabrik in der Ferne. Langsam verschwinden das Alterszentrum Alenia und die Nussbaumallee. Und mit ihnen verschwindet auch die Zeit.

Plötzlich ganz nah

Und dann, auf dem Rückweg, trifft jeden eine Erkenntnis. Markus von Gunten merkt schwitzend, dass die Rikscha trotz Motor viel Körpereinsatz verlangt – ihren 140 Kilo sei Dank. Ursula von Steiger und Nelly Lochbrunner bemerken etwas ganz anderes: Sie sind schon immer Nachbarinnen und wissen es nicht. Nur ein Stockwerk trennt sie. «Auch im Speisesaal sehen wir uns nie», meint Ursula von Steiger. «Aber nur, weil der Herr am Nachbartisch so einen breiten Rücken hat», fällt Nelly Lochbrunner ein. Sie lachen.

Schliesslich biegt die Rikscha wieder in die Nussbaumallee ein und hält vor dem Haus Worbstrasse an. «Eigentlich sind wir uns so nahe», meint Nelly Lochbrunner zu ihrer Nachbarin, während der Sicherheitsgurt gelöst wird. Markus von Gunten hilft beiden Frauen aus dem Sitz; sie strahlen wie die Sonne über ihnen. Während jede ihren Rollator greift, drehen die Lions weiter ihre Testrunden auf der Nussbaumallee. Schon bald soll dieser Anblick hier alltäglich sein. Hoffentlich. Werden Nelly Lochbrunner und Ursula von Steiger wieder mitfahren? Ja, ganz bestimmt, sagen sie unisono und blicken noch einmal die Strasse hinab.

Der Sponsor: muri-bern.lionsclub.ch
Das Projekt: radelnohnealter.ch

Schon gehört? Auch das Musikwelle Magazin des SRF hat das Erlebnis Rikscha ausprobiert: Wind in den Haaren – auch im Alter.

Paul Drzimalla

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