Zweiter Frühling für Kleider mit Geschichte

Einmal im Jahr gehen im Westen von Bern Hunderte alte Kleidungsstücke über den Tresen. Das Besondere daran: Am «Fairkleiden» wird getauscht. Dabei treffen verschiedene Kulturen und Religionen aufeinander. «Unter uns gesagt» war mit dabei.

Es ist ein warmer Sommertag in Bern-Bümpliz. Im Quartierzentrum Chleehus stehen Dutzende Frauen verschiedenen Alters Schlange, einige halten Plastiktüten in der Hand, die meisten unterhalten sich. Es ist der Auftakt zur alljährlichen Kleidertauschbörse «Fairkleiden», die von verschiedenen Organisationen zusammen mit freiwilligen Helferinnen im Westen Berns organisiert wird. Das Prinzip ist denkbar einfach: Wer Kleider zum Tauschen mitbringt, erhält pro abgegebenem Stück einen Bon, mit dem wiederum später ein neues Stück erworben werden kann. Beim Eintritt gibt es zusätzlich 3 Bons. So kann auch, wer nichts bringt, am Tausch teilnehmen. Liegen am Schluss mehr Kleider als Bons auf der Theke, kostet jedes zusätzliche Teil 2 Franken.

Dahinter steckt eine wichtige Idee: Kleider sind ein wichtiger Teil der Alltagskultur, werden jedoch achtlos und in grossen Mengen gekauft und wieder weggeworfen. «Fairkleiden» ist eine Plattform für Frauen allen Alters, wo diese neue Kleiderfinden können, ohne sich über Preise und Labels Gedanken machen zu müssen. Vor dem Abgabestand wird mittlerweile die Schlange beständig länger, immer mehr jüngere und ältere Frauen bringen Säcke voller alter Kleider, die von freiwilligen Helferinnen kritisch geprüft werden. Es herrscht ein Wirrwarr von Sprachen und Stimmen, viele warten gespannt darauf, dass sich die Türen zur eigentlichen Börse öffnen. Doch zunächst ist Modeschau: auf einem Laufsteg werden besonders attraktive Kleidungsstücke, die im Vorfeld abgegeben wurden, präsentiert, um die Teilnehmerinnen «gwundrig» zu machen.

Lilly Schwarz ist aus Brugg AG angereist. Im Gepäck hat sie Kleider, die für sie einen Lebensabschnitt markieren.

Kleider als Lebensabschnitte

Im Foyer vor der Tür herrscht inzwischen leichtes Gedränge; die ersten Damen haben sich im Café niedergelassen. Unter ihnen ist auch Lilly Schwarz. Die Pensionärin ist aus Brugg AG angereist. Sie ist heute zum ersten Mal im Chleehus; ihre Tochter, die in Bern lebt, hat sie auf den Anlass hingewiesen. Die Idee des Tauschens gefällt Lilly: «Ich habe so viele Kleider in meinem Schrank, die ich nicht mehr trage. Bis jetzt brachte ich es oft einfach nicht übers Herz, sie in die Kleidersammlung zu geben», erklärt sie bei einer Tasse Kaffee. Mühe, sich von ihren alten Kleidungsstücken zu trennen, hat sie keine: «Kleider stehen immer für einen Lebensabschnitt. Und wenn dieser zu Ende ist, kann man sich ruhig auch von der dazugehörigen Mode lösen.»

Selber hat die ehemalige Direktionsassistentin eines Konzerns vor allem Businesskostüme abgegeben. «Ich weiss nicht, ob jemand überhaupt gefallen daranfindet, schliesslich sind viele Stücke etwas aus der Mode», gibt sich Lilly nachdenklich. Und weiter: «Ich bin ein modebewusster Mensch, was aber nicht heisst, dass ich mich immer modisch kleide. Vor allem junge Mode sieht gut aus, wenn sie auch von jungen Menschen getragen wird.» Ein Raunen geht durch die Menge. Mittlerweile wurden die Türen geöffnet, und sofort schwärmen die Besucherinnen in den Innenraum. Auch Lilly will einen Blick hineinwerfen.

Voller Engagement dabei: Kira präsentiert ihre «Beute».

Ausgelassene Stimmung statt Gedränge

Der grosse Saal füllt sich schnell mit Leben. Kleider, Schuhe, Accessoires – alles wird geprüft, mitgenommen, wieder weggehängt. Gelegentlich nimmt eine Besucherin scherzhaft ein ausgefallenes Teil hoch und zeigt es mit einem Augenzwinkern einer Freundin; Kleidertauschen regt offensichtlich die Fantasie an. Immer wieder fallen Blicke auf die Auswahl in der Hand einer Mittauscherin – kein Wunder, schliesslich ist hier sozusagen jedes Teil ein Einzelstück. Ansonsten herrscht reges Treiben: Man fächelt sich immer wieder Luft zu, denn im Chleehus ist es mittlerweile richtig heiss geworden. Trotz den Temperaturen ist die Stimmung allerdings fröhlich – von Ausverkaufsatmosphäre keine Spur.

Lilly hat sich zwischenzeitlich wieder ins Café begeben. Sie ist erstaunt über den Andrang: «Das ist schon ein Gewühl. » Selbst hat sie nichts gefunden, wenn auch der Ständer mit ihren eigenen Kleidernschon nicht mehr ganz voll ist. Andere sind bereits fündig geworden und versammeln sich mit prall gefüllten Taschen im Foyer.

Einzelstücke mit Geschichte

Kira aus Bern hat gleich mehrere Säckevoll Kleider vor sich. Zusammen mit Bekannten und Verwandten, die ebenfalls am Kleidertausch teilnehmen, werden die einzelnen Teile präsentiert und begutachtet. Die Gymnasiastin hat T-Shirts, Hosen, verschiedene Schuhe und eine Tasche erstanden. «Diese Ledertasche stammt vielleicht aus Nordafrika. Zumindest riecht sie noch nach Kamel», sagt Kira scherzhaft. Überhaupt macht für sie die Geschichte der einzelnen Stücke einen Teil des Reizes am Kleidertausch aus: «Letztes Jahr hatte ich gerade ein Jäckchen entdeckt und war dabei, es am Kleiderständer zu begutachten. Da sprach mich ein ältere Dame an und meinte, das Jäckchen hätte einmal ihr gehört. Solche Geschichten machen so ein Stück natürlich schon speziell.»

Kira ist schon seit dem ersten Mal beim «Fairkleiden» dabei – auch als Model auf der Modeschau, die jeweils vor dem Beginn stattfindet. Grund mitzumachen ist neben den individuellen Kleidungsstücken, welche die NMS-Maturandin hier immer wieder findet, vor allemdie gute Sache: «Indem man alte Kleider wiederverwendet, schont man auch die Umwelt. Und das ist mir wichtig.» Zu den grossen Modehäusern geht sie selber weniger. «Ganz allgemein ist Mode für mich in letzter Zeit eher nebensächlich geworden. Mein Kleiderschrank ist ziemlich voll, sowohl mit Altem wie auch mit Neuem», sagt sie und blickt auf die Kleider vor sich. Ob wohl im nächsten Jahr etwas davon wieder hier zu finden sein wird?

Die Freundinnen Isabelle und Isabelle tauschen Kleider aus Überzeugung.

Der Wert der Kleider und des Austauschs

Ebenfalls fündig geworden sind Isabelle und Isabelle. Die Studentin und die Journalistin sind zum zweiten Mal dabei und haben T-Shirts und Hosen im Gepäck. Sie kennen den Anlass im Chleehus, seit ihnen vor zwei Jahren eine Nachbarin im Treppenhaus davon erzählt hatte, die Hände voller neuer alter Kleider.

Kleidertauschen ist für beide eine Frage der Nachhaltigkeit. Zu dieser Einsicht sind die jungen Frauen, die sich von der Uni her kennen, im Laufe der Zeit gelangt. «Man wird eben erwachsen. Früher hatten wir vielleicht weniger Geld, haben dafür aber mehr und unbedachter konsumiert. Heute überlegen wir uns zweimal, was wir kaufen», sagt Isabelle, die Journalistin. Ihre Namensvetterin ergänzt: «Die grossen Labels sind meist so teuer, dass sich das Tauschen quasi aufdrängt. Dazu kommt, dass der Preis, den man im Laden zahlt, nie der wirkliche Preis eines Kleidungsstückes ist, denn er widerspiegelt dessen Wert nicht.»

Kunststudentin Isabelle hält ein buntes Oberteil hoch. «Das hier ist spannend. Ich kann mir vorstellen, dass es aus Afrika stammt. » Tragen wird sie es aber vermutlich nicht: «Ich nähe selber. Und da gute Stoffe teuer sind, lohnt es sich immer, nach alten Stücken zu suchen, aus denen man etwas Neues machen kann.» Noch einen weiteren Grund für die Frauenkleider-Tauschbörse führt ihre Freundin auf: «An einer Kleiderbörse kann man einen sehr intensiven Austausch erleben – ganz anders als im Geschäft. Und dadurch, dass hier nur Frauen miteinander zu tun haben, herrscht allgemein eine entspannte Atmosphäre.»

Vor dem Eingang ist der Andrang gross, die Hitze ebenfalls.

Das Wesen zum Leuchten bringen

Nach und nach setzt die Entspannung auch bei den Helferinnen ein, denn die Gänge rund um die Kleiderständer leeren sich etwas. Auch die Temperaturen fallen langsam, aber sicher in erträglichere Bereiche. Die Käuferinnen, die das Chleehus verlassen, haben nicht immer volle Taschen, aber immer zufriedene Gesichter. Im Café wird noch etwas geplaudert; auch einzelne Männer, die auf ihre Frauen gewartet haben, mischen sich unter die Damen. Beim Belauschen der Gespräche fällt auf, dass ein Wort durch Abwesenheit glänzt: «Vintage». Obwohl Kleider und Schuhe aus allen Epochen getauscht werden – der Fifties-Rock genauso wie das Top vom letzten Jahr –, scheint niemand auf der Suche nach einem Altkleiderlook zu sein, sei er auch noch so angesagt.

Grund ist neben der Nachhaltigkeit, mit der sich hier fast alle identifizieren können, wohl der individuelle und bewusste Zugang zu Mode und zu Kleidern, den die Teilnehmerinnen haben. Eine Besucherin bringt es im Vorbeigehen auf den Punkt: «Ich interessiere mich für Mode, nicht für Trends. Kleider sind viel wichtiger, denn Kleider bringen das Wesen zum Leuchten. So lautet jedenfalls ein altes Sprichwort.» Und dabei scheint es nur zu helfen, wenn die Kleider selber eine Geschichte haben.

Paul Drzimalla

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