Wenn sich der Ehemann langsam zurückzieht

Die Demenzerkrankung ihrer Ehemänner hat zwölf Frauen zusammengeschweisst. Seit fünf Jahren treffen sie sich monatlich zum Mittagessen. Trotz schweren Schicksalen wird bei den Treffen viel gelacht.

Die starke Verbundenheit zwischen den sieben Frauen ist nicht zu übersehen. An einem kalten Tag sitzen sie gemeinsam an einem langen Tisch im kleinen Saal der Schmiedstube in Bern. «Wir treffen uns meistens am letzten Freitag des Monats in dieser Runde, manchmal sind wir sogar zu zwölft», erklärt Gaby Grossen. Ein schweres Schicksal hat die Gruppe zusammengeführt: Die Frauen sind alle verwitwet. Ihre Ehemänner erkrankten früh an Demenz und wurden auf ihrem letzten Lebensabschnitt von den Pflegefachkräften des Alterszentrums Alenia betreut. «Fast alle unsere Ehemänner wohnten im dritten Stock der Nussbaumallee 9, dem früheren Pflegeheim», sagt Gaby Grossen.

Manche haben das Gefühl, wir übertreiben.

Kennengelernt haben sich die Frauen auf der Wohngruppe oder im hauseigenen Allee Café. Die herzliche Anna Stoller habe vor fünf Jahren den Weg für die regelmässigen Treffen geebnet. «Sie hat uns ermutigt, gemeinsam Kaffee zu trinken und uns auszutauschen», erzählt Mädi Weber. Da einige zuvor schlechte Erfahrungen in Selbsthilfegruppen gemacht hatten, weil immer wieder dieselben Fragen besprochen wurden, brauchte dieser Schritt ein bisschen Mut. «Es ist grundsätzlich nur schwer möglich, mit jemandem über den an Demenz erkrankten Mann zu reden», erklärt Evi Binz. Denn Aussenstehende würden die Situation kaum verstehen, im Gegenteil: «Manche haben das Gefühl, wir übertreiben.»

Was es heisst, in einem schleichenden Prozess mitzuerleben, wie sich der Lebenspartner langsam zurückzieht, bis er – wie im Fall von Gaby Grossens Ehemann – vollständig gelähmt und ohne Sprache ist, das können nur Betroffene nachvollziehen: «Es ist ein langsames Entgleiten, man wird verlassen.» Für viele Angehörige sei es deshalb schwierig, den richtigen Zeitpunkt für den Heimeintritt zu finden: «Vor allem Männer haben grosse Mühe mit der Vorstellung, ihre Frau in ein Heim zu geben», erinnert sich Evi Binz an die Gespräche in einer anderen Selbsthilfegruppe. Das schlechte Gewissen habe sie geplagt. Mädi Weber ergänzt: «In unserer Gruppe haben wir alle das Gleiche erlebt und wissen, wie man sich in dieser Situation fühlt.» So hätten sie einander gegenseitig bei Entscheidungen stützen können und den Selbstvorwürfen damit entgegengewirkt.

Susanne Renz pflegte und betreute ihren Mann über zehn Jahre lang zu Hause. «Bis es einfach nicht mehr ging, bis ich selber fast krank wurde», erinnert sich die adrette Frau traurig an den schwierigen Entscheid, ihren Mann in die Obhut des Alterszentrums Alenia zu geben. Diesen Schritt zu akzeptieren, benötigt Zeit. «Man muss lernen, damit umzugehen», bestätigt Mädi Weber. «Für mich war es eine Erleichterung, als mein Mann im Pflegeheim einzog, denn ich wusste, er wird dort gut betreut», sagt Evi Binz. Und Hedi Zaugg ergänzt lächelnd: «Nach einer gewissen Zeit hatte ich das Gefühl, mein Mann habe es im Alenia sogar schöner als zu Hause. Denn im Heim war doch immer etwas los.»

Die Frauen trafen sich anfangs noch regelmässig im Café des Alterszentrums Alenia. «Irgendwann ging das aber nicht mehr», erinnert sich Anna Stoller. Denn nach dem Tod des Ehemanns sei es – besonders unter den Umständen, die die Krankheit mit sich brachte – sehr schwierig gewesen, wieder an den Ort der letzten Lebensphase zurückzukehren. Deshalb wählten die Frauen die Schmiedstube als neuen Treffpunkt. «Hier ist es ruhig, und man fühlt sich wohl.» Nur ab und zu organisiert Anna Stoller für ein kleineres Grüppchen ein Mittagessen im Allee Café. Dabei kommen auch schöne Erinnerungen auf: «Zweimal habe ich dort zusammen mit meinem Mann ein Dinner for Two geniessen können», erinnert sich Gaby Grossen. «Dabei konnten wir uns beim Essen endlich wieder einmal gegenübersitzen.» Denn normalerweise führte sie ihrem Mann den Löffel zum Mund und konnte nicht mit ihm zusammen essen. Beim Dinner for Two kümmerte sich eine Pflegekraft um das Wohl von Philippe Grossen. «Das ist eine sehr nette Idee, schade, habe ich das mit meinem Mann nicht mehr erleben können», sagt Evi Binz.

Doch auch an Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern hätten einige der Paare gemeinsam gegessen. «Wir haben den Männern damit ein bisschen die Welt ins Wohnzimmer ihres neuen Zuhauses gebracht», sagt Anna Stoller. «Die Tische waren schön gedeckt, und wir haben eine Flasche Wein mitgebracht», ergänzt Hedi Zaugg mit einem Lächeln. Dass die Frauen ihre Partner gegenseitig gekannt haben, ist ein weiterer Grund für die heutige Verbundenheit. «Ja, es war nicht immer nur traurig», bestätigt Anna Stoller und erinnert sich daran, was ihr Mann stets über Susanne Renz zu sagen pflegte: «Das ist ein Hübsches, sie hat die Lippen geschminkt.»

Bei den Treffen ist die Erkrankung ihrer Ehemänner längst nicht das einzige Thema. Es wird viel gelacht.

Sogar den schwierigsten Zeiten, den letzten Stunden im Leben ihrer Männer, können die Frauen Tröstliches abgewinnen: «Ich fühlte mich in dieser Zeit vom Pflegepersonal und vom Heimarzt getragen», erzählt Gaby Grossen, deren Mann im August 2017 mit 63 Jahren verstarb. Zweieinhalb Jahre lang – von insgesamt sieben Jahren im Heim – wurde er im engeren Sinn palliativ begleitet. Dank einer stets den Bedürfnissen angepassten Dosierung der Medikamente konnte er angst- und schmerzfrei von dieser Welt gehen. «Das ist eine grosse Leistung», kommentiert Gaby Grossen das Vorgehen des Heimarztes, mit dem sie sich regelmässig austauschte. Und das Pflegepersonal habe dem langen Sterbeprozess den nötigen «Raum» gegeben. Auch Mädi Weber lobt den feinfühligen Umgang des Pflegepersonals mit ihrem Mann, aber auch mit ihr.

Die Erinnerung an die letzten Tage ihres Mannes versetzt Susanne Renz wieder in Trauer. Ihr Mann verstarb nach einem Darmverschluss zwar im Spital. «Aber das Pflegepersonal vom Alenia besuchte ihn dort noch und nahm persönlich Abschied.» Zu traurig stimmenden Momenten kommt es aber nur noch selten in der aufgeweckten Gruppe. Denn die Frauen wollen nach vorne schauen: «Wir reden nicht immer nur über unsere Männer», versichert Anna Stoller. Gaby Grossen bestätigt lächelnd: «Viel wichtiger ist für uns jetzt, wer wo in die Ferien geht.» Da sie heute nicht viel Zeit für heitere Themen hatten, wird bereits das nächste Datum festgelegt. Die Witwen wollen zurück ins Leben – denn dieses geht bekanntlich auch nach schweren Schicksalsschlägen weiter.

Tamara Graf

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