Stille Nacht, eintönige Nacht

Was bedeutet Weihnachten für die, denen die Schweiz noch fremd ist, für Flüchtlinge zum Beispiel? In der Notunterkunft Siloah vor den Toren des Alterszentrums Alenia vor allem eines: warten.

Den blauen Himmel hat man schnell vergessen, wenn man hier ankommt. Zuerst geht es eine lange Rampe hinab, dann folgt ein Gang, dann noch einer, schliesslich steht man vor dem Büro der Notunterkunft Siloah. Fotos hängen an der Wand neben dem Schalter und zeigen Alltagsgegenstände mit ihren deutschen Namen: der Dosenöffner, die Schere, das Nähset. Hin und wieder geht jemand vorbei und grüsst – mal auf Deutsch, mal auf Englisch, meist aber tonlos. 

Die meisten hier gehen jedoch nicht. Sie sitzen. Stumm starren sie in ihre Smartphones, manch einer hat sein Bein über die Armlehne der abgewetzten Ledersofas gehängt oder lehnt an einer der grauen Wände, die das Licht der Leuchtstoffröhren in ein fahles Grün verwandelt. Sie alle warten. Schliesslich bricht einer die Stille: «Grüessech» schallt es in holprigem, aber selbstbewusstem Berndeutsch von der Wand links. Die Gesichter lösen sich von den Bildschirmen, erwartungsvolles Lächeln. Die Männer sind zu einer Verabredung gekommen: ein kurzes Gespräch in der Flüchtlingsunterkunft. Weihnachten soll das Thema sein, aus aktuellem Anlass. Im Hintergrund brummt leise die Lüftung des Luftschutzbunkers.

Durch die Sahara nach Gümligen

Acht haben sich gemeldet, um über Weihnachten zu reden. Acht Männer. Es sind alles Männer in der Notunterkunft Siloah. Für Frauen und Familien ist die Unterbringung ohne Tageslicht nicht ideal. Aus über 20 Ländern stammen die Menschen hier, die meisten aus Afghanistan und Eritrea. Aus Eritrea stammt auch die Gruppe, die sich im Aufenthaltsraum eingefunden hat, der eigentlich ein weiterer grün-weisser Gang ist. Die Lüftung dröhnt hier lauter; man muss sich konzentrieren, wenn man den Gesprächen folgen will. Die acht Männer aus Eritrea beginnen ihre Geschichte zu erzählen. Gere, Fissehaye, Abrham, Samuel, Isayas, Samiel, Lul und Abiel heissen sie. Alle haben sie den gleichen Weg zurückgelegt: zu Fuss nach Äthiopien, mit dem Auto in den Sudan, zu Fuss durch die Wüste nach Libyen, dann per Auto weiter an die Küste, über das Mittelmeer nach Italien und schliesslich per Zug in die Schweiz. Einige sind erst ein paar Monate da, wie der 17-jährige Samuel, andere wie Isayas, Samiel und Lul schon über ein Jahr.

Abiel (ganz rechts) würde an Weihnachten gerne ein grosses Fest feiern.

Luftballons am Weihnachtsbaum

Nun dreht sich das Gespräch um Weihnachten. Was wissen sie über Weihnachten in der Schweiz, ihrem Ankunftsland? Ratlose Blicke. Haben sie schon etwas gesehen, in den Geschäften etwa, einen Weihnachtsbaum oder Weihnachtsschmuck? Doch, den Weihnachtsmann habe er irgendwo gesehen, meint Abiel und deutet mit den Händen einen langen Bart an. Die Verständigung fällt nicht leicht; Englisch und ein paar Brocken Deutsch müssen reichen, Tigrinya wäre die Sprache der Wahl. Trotzdem taut die Stimmung auf. Wie feiern sie selber Weihnachten? Wie viele Eritreer sind auch sie Anhänger der orthodoxen Kirche, feiern Weihnachten also erst im Januar. Auch sie gehen in die Kirche; man stellt einen Baum auf. Nur ob daran wirklich Luftballons hängen, wie Lul behauptet, bleibt unklar. Sprachbarrieren tun sich auf. Vieles klingt jedoch vertraut: die Erzählungen von früheren Weihnachtsfesten im Familienkreis, von Geschenken. Aus dem hinteren Bereich der Notunterkunft dringen Stimmen. 100 Menschen finden hier Platz, zurzeit sind es 87.

Party mit Unbekannten

Welche Wünsche haben sie für das neue Jahr? Schliesslich geht Weihnachten mit dem Jahreswechsel und den entsprechenden Wünschen einher. Abiel ergreift das Wort. «Freunde, Party, Tanzen», sagt der 27-Jährige und wirft enthusiastisch die Arme in die Luft. Er bekommt Zustimmung aus der Richtung von Abrham und Samuel. Sind die Freunde denn noch in Eritrea? Hat jemand Frauen und Kinder? Nein, sagen alle und winken ab. Doch die Frage lässt sich nicht umgehen: Wie sieht die Zukunft aus? Wie soll es für sie weitergehen, hier in der Notunterkunft, in der Schweiz? Es folgen Diskussionen auf Tigrinya. Sie werden hierbleiben, sagt Samuel. Ja, ganz sicher, stimmen die anderen ihm zu. Doch genau weiss es eigentlich keiner von ihnen. Ihr Verfahren ist noch hängig; ob sie Asyl erhalten, ist offen. Längst nicht alle in der Notunterkunft Siloah dürfen in der Schweiz bleiben. Sollte der Wunsch fürs neue Jahr da nicht lauten, in einer eigenen Wohnung zu leben? Doch, findet Abiel, ein halbes Jahr unter der Erde sei einfach zu lang.

Tischtennis ist ein beliebter Zeitvertrieb in der Notunterkunft. Abrham ist der selbsternannte Champion.

Der Winter bleibt draussen

Die Zeit, sie scheint stillzustehen im Luftschutzbunker. Isayas, Samuel und Lul leben bereits seit über einem Jahr hier. Sie haben schon einen Schweizer Winter erlebt. Haben ihnen die Kälte und die Dunkelheit nichts ausgemacht? Lul lacht. Wenn man hier unten ist, seien Temperatur und Licht doch sowieso egal, gibt er zu verstehen. Es gibt Beschäftigungsangebote und gemeinnützige Arbeit, auch das Alterszentrum Alenia bietet einen Hilfsjob in der Küche an. Doch das Arbeitsangebot ist beschränkt, die Jobs sind schnell vergeben. Ohne Zusatzjob stehen jedem Bewohner Fr. 9.50 pro Tag zur Verfügung; für grössere Unternehmungen reicht das nicht. Und so landen irgendwann alle wieder hier: im Inneren der Notunterkunft mit ihren Betonwänden, die auch von den Farbkreisen nicht wärmer werden, die einzelne Räume zieren. Es ist eben eine Notunterkunft; auf sie wird nur zurückgegriffen, wenn in den anderen Asylunterkünften kein Platz mehr ist. Das ist seit August 2015 der Fall, als der Luftschutzbunker an der Worbstrasse zur Notunterkunft erklärt wurde. Wie verbringt man also seine Zeit unter Tage? Mit Tischtennis zum Beispiel, meint Abiel, oder am Töggelikasten. Und ja, oft sei das Smartphone der beste Zeitvertreib. Es ist ein anderer Draht nach aussen als der Gang über die Rampe nach oben.

Warten auf die Familie

Und so beginnen Abrham und Abiel Tischtennis zu spielen. Er sei der Champion, meint Abrham selbstbewusst. Die anderen schauen zu, witzeln hie und da. Ein paar haben sich auch schon zurückgezogen in den hinteren Teil der Notunterkunft, wo sich die Mehrbettzimmer befinden. Während das Tischtennismatch in vollem Gang ist, fängt Fissehaye, der vorhin meist ruhig dagesessen hat, an zu erzählen. Mit seinen 40 Jahren ist er mit Abstand der älteste unter den acht Eritreern in der Runde. Er habe eine Frau, sagt er jetzt. Und drei Kinder. Sie seien aber nicht hier, sondern warten noch auf die Weiterreise, in Äthiopien und Libyen. Ob er sich denn vorstellen könne, jemals nach Eritrea zurückzukehren? Nein, sagt Fissehaye bestimmt, niemals. Abiel, der neben ihm steht, schüttelt den Kopf. Zurückkehren, das gehe nicht. Nebenan landet ein Schmetterball von Abrham an der moosgrünen Betonwand. Das Thema Weihnachten scheint schon längst in grosser Ferne.

Eines haben die Gesprächsteilnehmer gemeinsam; sie alle blicken in eine ungewisse Zukunft.

Ein Leuchten im Dunkeln

Wieder vor dem Büro, geht ein letzter Blick in die Gänge der Notunterkunft, bevor es zurück nach draussen geht, durch die Gänge und über die Rampe, zum blauen Himmel. Jemand leiht sich den Dosenöffner für eine Dose mit Tomaten. Von nebenan klingen noch schwach die Lüftung und das Klacken der Tischtennisbälle. Abrham und Abiel haben noch keinen Gewinner ausgemacht. Der Rest der Gruppe hat sich verabschiedet und lautlos verstreut. Isayas sieht man noch kurz, auch Gere steht im Gang. Ansonsten sieht man Männer in der Nähe der Steckdosen stehen und in ihre Smartphones blicken. In einem Nebenzimmer brennt kein Licht, nur knapp lassen sich drei Ledersofas erkennen. Auf sie fällt ein blaues Licht, das eine Handvoll Bildschirme auf sie wirft. Dahinter sitzen Männer, die in die Ferne blicken. Ob einer von ihnen an die Lichter am Weihnachtsbaum denkt?

Paul Drzimalla

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