Man hat nie ausgelernt

Was tun, wenn das Pensionsalter erreicht ist, aber man die Füsse nicht stillhalten müchte? Immer mehr Senioren bilden sich deswegen auch im Alter weiter. Möglich macht dies die Seniorenuniversität.
Was tun, wenn das Pensionsalter erreicht ist, aber man die Füsse nicht stillhalten müchte? Immer mehr Senioren bilden sich deswegen auch im Alter weiter. Müglich macht dies die Seniorenuniversität.
Studentinnen und Studenten sitzen draussen vor dem Hauptgebäude der Universität Bern und geniessen das für einen Februarnachmittag erstaunlich warme Wetter. Nur wenige von ihnen nutzen die Mittagspause zum Lernen, die meisten essen etwas und plaudern gemütlich mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Prüfungsstress scheint hier niemanden zu plagen, schliesslich ist es die erste Woche des Frühlingssemesters. Die Prüfungszeit liegt erst wenige Tage hinter den Studenten – jetzt ist ein wenig Erholung angesagt.
Beim Betreten des Hauptgebäudes empfängt einen schon fast unheimliche Stille. Die Gänge sind zur Mittagszeit praktisch menschenleer, nur ein paar Reinigungskräfte verrichten gerade ihre Arbeit. Doch plützlich tut sich etwas: Eine kleine Gruppe älterer Herren betritt das Hauptgebäude und läuft zielstrebig in Richtung Treppe. Den Männern folgt nur wenig später ein Ehepaar, beide um die 70 Jahre alt. Sie gehen hinauf zur Aula, betreten den Vorlesungssaal und nehmen Platz. Gleich beginnt ihre Vorlesung.

«Es lohnt sich jedes Mal.»
Rund 250 Seniorinnen und Senioren sind an diesem Freitagnachmittag nach Bern gekommen, um an der ersten Veranstaltung des neuen Semesters der Seniorenuniversität teilzunehmen. Eine von ihnen ist die 75-jährige Margrit Gloor. Sie ist mit dem Zug aus Solothurn angereist und ist schon rund eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn eingetroffen, um bei der Einlasskontrolle zu helfen – freiwillig, versteht sich. Sie nehme viel Aufwand auf sich, um an den Veranstaltungen der Seniorenuniversität Bern teilzunehmen. «Aber es lohnt sich wirklich jedes Mal», versichert sie.
Das heutige Thema der Veranstaltung lautet «Greif, Einhorn, Lindwurm: Fabelwesen als Wappenbilder». Margrit Gloor freut sich besonders auf diesen Vortrag, weil mit Berchtold Weber, einem ehemaligen Gymnasiallehrer und Ehrensenator der Universität Bern, einer ihrer Lieblingsdozenten referiert.
Seit fast zwölf Jahren nimmt Margrit Gloor regelmässig an den Veranstaltungen der Seniorenuniversität teil. «Je älter ich werde, desto mehr interessiere ich mich für Neues», so die ehemalige Abteilungsleiterin einer Versicherungsgesellschaft. Hier werde man mit Themen konfrontiert, die man sonst weniger beachten würde. «Wissbegierde» ist Margrit Gloors Antrieb, der sie dazu bewegt, an den wüchentlichen Veranstaltungen der Seniorenuniversität teilzunehmen. Währenddessen geniessen draussen vor dem Gebäude die jungen Studenten die Sonnenstrahlen.

Seniorenuni statt Philosophiestudium
Bei der Auswahl der Themen richte man sich stark nach den Interessen der Teilnehmer, erklärt Ruth Meyer-Schweizer, die Präsidentin der Seniorenuniversität Bern. Medizinische Themen seien bei den Senioren besonders beliebt, aber man biete etwa auch naturwissenschaftliche, psychologische oder politische Vorträge an. «Besonders wichtig ist uns der Aktualitätsbezug eines Themas», betont Ruth Meyer-Schweizer. So werden an der Seniorenuniversität auch immer wieder neueste Forschungsergebnisse vorgestellt.
Einen Leistungsgedanken gibt es dabei nicht, sagt die Präsidentin. An der Seniorenuniversität gibt es keine Prüfungen und erst recht keine Benotung der Teilnehmenden. Wer so etwas sucht, kann sich für ein reguläres Studium inklusive Bachelor- oder gar Masterabschluss an der Universität Bern einschreiben. Mit diesem Gedanken spielte vor zwülf Jahren auch Margrit Gloor: «Ich habe mir nach der Pension überlegt, ob ich noch ein Philosophiestudium beginnen soll.» Mitunter hätten finanzielle Gründe den Ausschlag gegeben, dass sie sich gegen das Studium und für die Seniorenuniversität entschieden habe. Für einen Jahresbeitrag von 80 Franken profitiert sie hier von einem grossen Angebot an Vorträgen und Sonderveranstaltungen.
Wappentiere und Batman
14.15 Uhr. Margrit Gloor und die anderen freiwilligen Helferinnen und Helfer schliessen die Türen der Aula. Die Blicke der Senioren richten sich gebannt nach vorne. Die Präsidentin begrüsst die Teilnehmenden und stellt den heutigen Dozenten kurz vor. Dann übergibt sie das Wort Berchtold Weber. Schnell wird klar, warum Margrit Gloor ihn als einen ihrer Lieblingsdozenten bezeichnet hat: Berchtold Weber drückt sich verständlich aus und verfügt über einen trockenen Humor. Damit bringt er die anwesenden Senioren immer wieder zum Lachen. Wie zum Beispiel mit dem Vergleich eines fledermausartigen Wappentiers mit dem Comic-Helden Batman.

Der rund einstündige Vortrag von Berchtold Weber dreht sich zwar um ein geschichtliches Thema, ist aber modern aufgebaut. Mithilfe einer Powerpoint-Präsentation zeigt er den Senioren Wappenbilder, um diese anschliessend systematisch zu analysieren und historisch einzuordnen. Nach der Präsentation steht eine kurze Pause auf dem Programm, ehe es mit der Diskussion weitergeht. Die Teilnehmenden erhalten hierbei die Gelegenheit, dem Referenten Fragen zu stellen. «Die Diskussionen künnen manchmal ganz schün hitzig sein», meint Margrit Gloor schmunzelnd. So komme es zum Beispiel bei medizinischen Themen gelegentlich vor, dass ehemalige ärzte im Publikum sitzen und eine ganz andere Meinung verfechten als die Dozentinnen oder Dozenten.
Heute verläuft die Fragerunde jedoch ruhig. Viele Senioren sind schon nach der Präsentation nach Hause gegangen, zurück bleibt eine Gruppe von rund 50 Personen. Fragen wie «Wie erhielt eine Familie im Mittelalter ihr eigenes Wappen?» werden von Senioren gestellt. Berchtold Weber antwortet stets ohne zu zügern. In Monarchien verlieh jeweils der Landesherr einer Familie ein Wappen, aber in der Schweiz hätte man dafür keine behürdliche Bewilligung benütigt. Ein Familienwappen sei hierzulande ein «Zeichen der Freiheit» gewesen, erklärt er weiter. Berchtold Weber lässt kein Detail aus. Sein Wissen und seine Leidenschaft für die Heraldik, so der Fachbegriff für die Wappenkunde, sind bei der Diskussion spürbar.

Fast wie an der Uni
Vieles an der Seniorenuniversität gleicht dem Geschehen an der «normalen» Universität. Auch hier machen sich einige Teilnehmende während der Vorträge und Diskussionen fleissig Notizen, während andere einfach nur dasitzen und zuhüren. Auch hier gibt es Grüppchen, die eng beieinandersitzen und hie und da flüsternd ein paar Worte austauschen, während andere irgendwo alleine für sich Platz genommen haben. Dass im Vorlesungssaal das Durchschnittsalter rund 50 Jahre hüher liegt als bei den üblichen Veranstaltungen der Universität, fällt kaum auf. Ein Unterschied wird am Ende des Vortrags aber doch offensichtlich: Hier wird in die Hände geklatscht, anstatt mit der Faust auf den Tisch zu klopfen.
Nach der Veranstaltung verlassen die Senioren zufrieden die Aula im 2. Stock. Auch Margrit Gloor hat der heutige Vortrag einmal mehr gefallen. Sie geht jetzt noch an die Stammtischrunde, den die Seniorenuniversität seit letztem Herbst im Restaurant Grosse Schanze organisiert, um den Austausch zwischen den Teilnehmenden zu fürdern. Es sei schliesslich gar nicht so einfach, im Rahmen der Vorträge neue Freundschaften zu knüpfen, meint Margrit Gloor.
Freiwilliges Engagement, Vorlesung und Stammtisch – wenn Margrit Gloor von ihrem straffen Tagesprogramm erzählt, erhält man den Eindruck, sich mit einer jungen Studentin Mitte zwanzig zu unterhalten. Vielleicht hat Margrit Gloor diese jugendliche Ader auch ein wenig der Seniorenuniversität zu verdanken. Lernen hält eben jung.
Louis Bourquin