«Ich verzichtete aus Liebe zu meiner Schwester auf eine eigene Familie. Bereut habe ich es nie.»

Dory Balmer lebt seit über 27 Jahren in einer Alterswohnung im Alterszentrum Alenia. Im Interview blickt sie zurück auf Glücksmomente, unerfüllte Träume und wichtige Wegbegleiter.

Steckbrief

Name: Dory Balmer
Aufgewachsem in: Muri bei Bern
Alter: 96 Jahre
Beruf: Buchhändlerin/Sekretärin
Im Alterszentrum Alenia seit: 1987

Guten Tag, wie geht es Ihnen heute?
Die letzten Wochen waren nicht rosig. Nach meinem Unfall Anfang Mai blicke ich nun aber wieder zuversichtlich in die Zukunft. Ich habe in meinem Leben gelernt, dass positives Denken wichtig ist. In den letzten Wochen hat mir dies sehr geholfen. Meinen linken Arm darf ich noch nicht bewegen. Das schränkt mich zurzeit sehr ein.

Warum haben Sie sich vor 28 Jahren für diese Wohnform entschieden?
Dafür gab es unter anderem einen ganz einfachen Grund. Ich koche nicht gerne. Die Alterswohnung bietet mir die Möglichkeit, gemeinsam mit den anderen Bewohnern zu essen. Natürlich wählte ich auch einen Aufenthaltsort, an dem ich bis an mein Lebensende bleiben kann. Ich bin in Muri aufgewachsen. Als das Wohnheim 1987 eröffnet wurde, bin ich als eine der Ersten eingezogen. Ich kam also aus dem Breitenrainquartier zurück in die «alte» Heimat.

Was gefällt Ihnen hier besonders und was weniger?
Ich bin rundum zufrieden. Ich verstehe mich mit allen Bewohnern gut, habe aber keine innigen Beziehungen. Anders verhält es sich mit Frau Krummenacher. Mit ihr habe ich eine Seelenverwandte gefunden. Wenn man 96 Jahre alt ist, sind viele Bekannte und Verwandte bereits verstorben. Umso mehr bedeutet mir die Freundschaft mit Frau Krummenacher. Ich schätze alle Angestellten. Die Neuerungen, die bevorstehen, schmerzen. Einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen die Institution.

Was würden Sie in Ihrem Leben anders machen, was nie mehr?
Mein Leben war vorausbestimmt durch die Beeinträchtigung meiner Schwester. Sie hatte das Down-Syndrom. Meine Eltern und ich pflegten sie mit viel Hingabe. Das fiel uns überhaupt nicht schwer, denn sie war ein überaus liebenswerter Mensch. Meine Eltern bereiteten mich bereits im Kindesalter auf die Aufgabe vor, die Betreuung meiner Schwester zu übernehmen. Schon früh wusste ich, dass ich nie heiraten und keine eigene Familie gründen würde. Zu gross war die Bürde, die ich mitbrachte. Das Wohl meiner kleinen Schwester war wichtiger. Ich bekam die Möglichkeit, eine Lehre als Buchhändlerin in der Buchhandlung Scherz in Bern zu absolvieren. Dafür bin ich noch heute dankbar. Buchhändlerin war mein absoluter Traumberuf. Sicher gab es auch harte und schmerzliche Momente in meinem Leben. Auch ich war verliebt. Ich wusste aber immer, dass meine Bestimmung eine andere war. Diese Entscheidung habe ich nie bereut.

Ich weiss, dass heute viel Gutes von Menschen zurückkommt, die ich durch diese besonderen Umstände kennengelernt habe. Die Pflege meiner Schwester wurde für meine Eltern zunehmend schwieriger. Ich unterstützte sie, wie ich nur konnte. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Sekretärin eines Personalchefs und wohnte im Breitenrainquartier. Für die Zukunft brauchten wir eine Lösung. Das wurde uns langsam bewusst. Mein Vater starb 1969. Meine Mutter benötigte nun auch Unterstützung und Betreuung. Als 1975 das Pflegeheim neu eröffnet wurde, bezogen meine Mutter und meine Schwester zusammen ein Zweierzimmer. Wir waren alle sehr erleichtert. Mutter und Tochter konnten zusammenbleiben; das war das Allerwichtigste. Durch den Aufenthalt im Pflegeheim entstanden auch für mich viele neue Freundschaften, die bis heute erhalten geblieben und ein wahrer Segen sind.

Was ist Ihre liebste kulturelle Beschäftigung?
Klassische Konzerte. Mein Chef in der Buchhandlung Scherz war kulturell sehr interessiert. Die Angestellten mussten mit ihm klassische Konzerte besuchen. Meine Mutter nähte mir, speziell für diese Anlässe, ein dunkelblaues Deux-Pièces mit Brokatkragen. Irgendwann begann ich, diese Musikrichtung zu lieben; das hat sich bis heute nicht geändert. Lange Zeit besass ich Abonnemente für Konzerte des Berner Symphonieorchesters und für das Stadttheater.

Womit kann man Ihnen eine Freude bereiten?
Mit Blumen und guten Gesprächen. Ich bin weltoffen, vielseitig interessiert und diskutiere gerne. Manchmal vermisse ich allerdings ein Gegenüber, das mir Paroli bietet.

Welche Lebenswünsche sind in Erfüllung gegangen, welche nicht?
Direkt nach der Schule besuchte ich für ein Jahr die Schweizer Schule in Paris. Und ich bekam noch eine weitere Gelegenheit für ein Auslandjahr. In Petersfield, das liegt zwischen London und Portsmouth, lebte und arbeitete ich auf einer grossen Erdbeerfarm. Ich half beim Ernten der Erdbeeren mit oder betreute die Kinder der Familie. Der Mann hatte die Farm übernommen, da er krankheitsbedingt nicht mehr als Marineoffizier arbeiten konnte.

Das Ehepaar war nicht so konservativ wie ein grosser Teil der Engländer. So genoss ich auch Freiheiten. Von ihren Vorfahren hatte die Familie Anteile an der Royal Albert Hall in London geerbt. Ich bekam mehrmals die Möglichkeit, für drei oder vier Tage nach London zu reisen und kostenlos Konzerte zu besuchen. Dafür nahm ich den einstündigen Weg bis zur nächsten Busstation gerne in Kauf.

Was möchten Sie unbedingt noch erleben?
Ein klassisches Konzert besuchen oder einfach wieder einmal Stadtluft schnuppern. Im Alter nimmt man jeden Tag ein bisschen Abschied; auch von solchen Wünschen. In manchen Momenten macht mich diese Gewissheit traurig. Ich bin sehr bereit zu gehen. Vor dem Sterben habe ich keine Angst. Angst macht mir nur, was vorher noch kommen könnte. Ich bin nicht sehr fromm, glaube aber an eine höhere Kraft. Wenn ich in den Sternenhimmel schaue, denke ich, dass jeder leuchtende Stern für einen Menschen steht, der mir etwas bedeutet und der mich einen Teil meines Lebens begleitet hat.

Können Sie jungen Menschen für ihr Leben einen Tipp geben?
Nein. Mich belastet vor allem die Gewalt und Brutalität unter den Menschen. Man liest und hört so viel von Beziehungsdelikten, was ich schrecklich finde. Auch die aktuellen Kriegssituationen und die zunehmende Umweltzerstörung machen mir zu schaffen.

Monika Di Girolamo

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