Grosses Glück im kleinen Unglück

Dory Balmer wohnt im Haus Bahnhofstrasse, und sie hatte die Feuerwehr im Haus. Die musste zum Glück kein Leben retten, ist aber trotzdem lange geblieben. Eine Geschichte mit doppeltem Happy End.

«Ich würde dir ja gerne einen Tee anbieten, aber mein Knie schmerzt so. Gehen wir nachher wenigstens einen Kaffee trinken?» Dory Balmer meint es gut mit ihrem Gast. Die beiden kennen sich gut, auch wenn der Zufall sie zusammengeführt hat. Der Gast von Dory Balmer heisst Lorenz, er trägt eine Sicherheitshose und hält einen Helm in der Hand. Er ist Fahrer bei der Feuerwehr AMG. Gemeinsam sitzen sie in der Alterswohnung von Dory Balmer im Haus Bahnhofstrasse und unterhalten sich. So wie damals vor etwas über einem Jahr.

Rauch über dem Kreuzworträtsel

Es ist ein Abend im Mai 2015, als Dory Balmer beschliesst, sich einen Tee zu kochen. Sie erinnert sich noch gut: «Ich habe ein Kreuzworträtsel gelöst, um die Zeit zu überbrücken, bis das Wasser kocht.» Doch das Wasser kocht nicht. Stattdessen bemerkt Dory Balmer einen stechenden Geruch. Sie steht vom Sofa auf, um nachzusehen. Ein Arm von Dory Balmer hängt in einer Schlinge – ein Unfall, der sich wenige Wochen zuvor beim Gang zum Briefkasten ereignet hat. Sie braucht eine Weile, um in die Küche zu kommen. Dort angekommen, trifft Dory Balmer der Schrecken. Eine Kochplatte steht in Flammen. Statt der Herdplatte mit dem Teewasser hat sie die andere Platte angeschaltet. Eine Verwechslung mit Folgen: Auf der heissen Platte liegen Korkuntersetzer, die Feuer gefangen haben.

Doch Dory Balmer bewahrt einen kühlen Kopf. Mit der Hand, die nicht in der Schlinge steckt, dreht sie den Wasserhahn auf und füllt das Lavabo mit Wasser. Dann greift sie sich einen Kochhandschuh und wirft die brennenden Korkplatten ins Wasser. Sie bemerkt die Gummimatten, die neben dem Lavabo liegen, und wischt sie gleich auch noch auf den Boden. «Nicht, dass die auch noch brennen», sagt Dory Balmer. Im Nachhinein ist sie selbst überrascht über ihre Besonnenheit: «Normalerweise bin ich eine sehr lebhafte Person. Doch in diesem Moment war ich ganz ruhig.» Als der Brand gelöscht ist, betrachtet sie die Sache als erledigt und setzt sich wieder an ihr Kreuzworträtsel.

Eine besondere Ehrenmitgliedschaft

Während die Rettungskräfte aufräumen und der technische Dienst die Spuren des Herdplattenbrandes beseitigt, setzt sich Feuerwehrmann Lorenz zu Dory Balmer. Das ist üblich: Viele Menschen erleben einen Feuerwehreinsatz als traumatisierend, auch wenn sie selber keinen Schaden nehmen. Die vielen Einsatzkräfte in voller Montur, die Hektik, die über die eigenen vier Wände hereinbricht – ein persönliches Gespräch hilft, davon abzulenken. Dieses Gespräch sucht Lorenz mit Dory Balmer. Doch die ist alles andere als traumatisiert und Lorenz findet sich schnell in einer angeregten Unterhaltung wieder. Dory Balmer, die gelernte Buchhändlerin, weiss viel aus ihrem Leben zu erzählen, und sie tut es mit Charme und Witz. Ihr Gesprächspartner verfolgt gespannt ihre Schilderungen – über die Zeit in ihrem Englandjahr; über ihre Lehre in der Buchhandlung Scherz in Bern. Fast anderthalb Stunden dauert der Einsatz – auch dank dem Gespräch auf dem Sofa.

Am Schluss zeigt sich Dory Balmer doch noch bewegt über den Zwischenfall, den ihr Missgeschick ausgelöst hat, diese dumme Verwechslung. «Muss ich denn jetzt schon in die Demenzabteilung?», fragt sie Lorenz halb im Scherz. «Nein, doch in der Feuerwehr könnten wir dich gebrauchen», entgegnet er schlagfertig. Zu gerne würde die Feuerwehr AMG Dory Balmer zum Mitglied machen, denn die charismatische und herzliche Dame hat auch die anderen Anwesenden für sich gewonnen. Doch alle wissen: Für die Feuerwehr ist Dory Balmer zu alt. Da macht Lorenz spontan ein Angebot: «Wie wäre es mit einem Ausflug? Wir nehmen dich mit auf eine Übungsfahrt.» Für diesen Vorschlag erntet Lorenz einen prüfenden Blick vom Vizekommandanten, der ein paar Meter entfernt steht. Er weiss, dass Zivilpersonen nicht in Feuerwehrfahrzeugen mitgeführt werden dürfen. Das weiss auch Lorenz, der das einmalige Angebot nur aufgrund der besonderen Situation gemacht hat. Doch für Zweifel ist es zu spät: «Das wäre schön», hat Dory Balmer schon geantwortet. Sie und Lorenz werden sich also wiedersehen. Versprochen ist versprochen.

Tage wie dieser: Von Dory Balmers ungewöhnlichem Feuerwehrausflug ist mehr als nur ein Erinnerungsfoto geblieben.

Eine Fahrt ins Blaue

Die rechtlichen Hürden für das Wiedersehen sind bald überwunden. Für die Ausfahrt mit ihrem neuen Ehrenmitglied holt die Feuerwehr AMG eine Sonder- bewilligung ein. «Eine grosse Ausnahme», wie Lorenz betont. Und so wird Dory ­Balmer an einem klaren Sommertag von drei Feuerwehrmännern in ihrer Wohnung abgeholt. Da der Einstieg ins grosse Löschfahrzeug zu steil ist, sind Lorenz und seine Kollegen im kleinen Kommandofahrzeug vorgefahren. Gemeinsam mit ihrem Sondergast bricht die Gruppe zu ihrer aussergewöhnlichen Übungsfahrt auf. Die Route führt quer durch Gümligen, und unterwegs kommt Dory Balmer eine Idee: «Können wir an meinem alten Wohnhaus vorbeifahren? Ich möchte sehen, wie es sich verändert hat.» Die vier machen halt vor besagtem Haus. Sie klingeln. Und tatsächlich öffnen die neuen Mieter die Tür. Dory Balmer und ihre Begleiter stellen sich vor und werden prompt hereingebeten. Einmal mehr gewinnt Dory ­Balmer die Menschen für sich, ihrer offenen Art sei Dank.

Wieder im Auto steuern Lorenz und seine Kollegen die Feuerwehrkaserne an. Dort auf dem Vorplatz wollen sie Löschübungen machen. Und für Dory Balmer haben sie einen Höhepunkt vorgesehen. Und der hat es in sich. Denn zum Inventar der Feuerwehr AMG gehört ein Hubretter, mit dem Menschen von aussen aus einem brennenden Gebäude evakuiert werden können. Dory Balmer nimmt auf einem Stuhl Platz, den Lorenz auf die Hebebühne des Hubretters gestellt hat. Lorenz steigt ein, schliesst die Tür, und die Hebebühne steigt in die Luft. Und steigt und steigt. Erst nach 32 Metern kommt sie zum Stehen, hoch über Gümligen. «Kann ich endlich auf- stehen?» Dory ist ungeduldig, will die Aussicht an diesem Sommertag geniessen. Und die ist atemberaubend: Oben ­blauer Himmel, am Horizont die Alpen und ­unter den Füssen von Dory Balmer Gümligen. Als sie wieder unten angekommen sind, ist es Mittagszeit. Wie im Flug ist die Zeit vergangen, und alle vier sind glücklich und auch etwas erschöpft, als sie sich zum Mittagessen begeben.

Der Zusammenhalt im Kleinen

Ein Jahr später. Lorenz sitzt immer noch in der Alterswohnung von Dory Balmer. Die beiden erinnern sich an die Ereignisse damals, aus denen eine echte Freundschaft entstanden ist. Mehrmals hat man sich schon gegenseitig zum Essen eingeladen, oft auch zusammen mit anderen Feuerwehrleuten, die sich an den Einsatz bei Dory Balmer erinnern. «Habt ihr die Kaninchen noch?», erkundigt sie sich. Sie kennt die Familie von Lorenz; mit den Kindern führt sie sogar eine Brieffreundschaft. «Der Zusammenhalt in der Gemeinschaft ist mir wichtig. Auch im Kleinen», fasst Lorenz zusammen, was er an der Freundschaft mit Dory so schätzt. Und ergänzt mit einem Lachen: «Kindern schenken wir nach einem Feuerwehreinsatz einen Teddy, Erwachsenen in der Regel nichts. Was wir alles verpasst hätten ohne das Gespräch mit Dory damals!» Da lacht auch Dory Balmer, und die beiden reden weiter.

Paul Drzimalla

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