Estebans grosse Probe

Esteban Gonzalez will das, was viele junge Köche wollen: Er will in die Welt hinaus. Doch bevor er das kann, wartet eine letzte Prüfung auf ihn. Viel bringt er schon mit – auch seine eigene Geschichte.
Wenn dieser Artikel erscheint, wird Esteban schon lange weg sein. Er wird ein richtiger Koch sein, und die müssen in die Welt hinaus. Doch bevor es soweit ist, wird er seine Lehrabschlussprüfung bestanden haben. Wird aus einem Warenkorb drei Gänge gezaubert, spontan zwei Standardgerichte gekocht und allerlei weitere Proben absolviert haben.
Mise-en-place: locker bleiben
Die Hektik des Mittags ist in der Küche des Hauses Worbstrasse bereits verflogen. Esteban Gonzalez steht über einen Plastikbehälter gebeugt und trennt Eier. «Ich bin nicht aufgeregt, nein. Alles kommt gut», sagt er und blickt kurz auf, die Augen hell und wach. Doch warum sollte er überhaupt aufgeregt sein? Das liegt am Anlass: Heute findet das letzte Probekochen vor Estebans Lehrabschlussprüfung statt. Bereits um halb 8 hat er seinen Warenkorb erfahren – also diejenigen Produkte, aus denen er jetzt etwas zaubern muss.
Ihn begleitet heute ausnahmsweise Küchenchef Thomas Schaad. Eigentlich ist er nicht Estebans Lehrmeister; der weilt in den Ferien. Doch das ist kein Problem: Den Lehrling kennen sie hier alle. Und Esteban, er schenkt ihnen allen sein Lächeln.
Erster Gang: Familiensache
Zwei Räume weiter ist ein Tisch für das Probeessen reserviert. Die Test-Esserinnen warten bereits gespannt: Sarah Gonzalez, die Schwester des jungen Kochs sitzt neben Doris Kirchner, seiner Grossmutter. Sie öffnet ihre Serviette: «Die Mutter konnte leider nicht. Aber ich komme natürlich gerne und finde heraus, was unser Esteban kocht.» Kochen als Familiensache? Ja, Essen sei wichtig. Und Esteban – beide nicken – würde bestimmt etwas Besonderes zaubern.
Der erste Gang wird serviert, ausnahmsweise vom Chefkoch Thomas Schaad persönlich. «Crevetten auf einem Beet von Beluga-Linsen mit Salatbouquet und Peperoni-Coulis», kommentiert er. «Oh, das ist exzellent», meint die Grossmutter nach den ersten Bissen. Frisch schmecke es, findet auch Schwester Sarah.

Zweiter Gang: Haar in der Suppe
Thomas Schaad kehrt aus der Küche zurück. «Wie war’s?», erkundigt er sich. Lobpreisungen folgen, aber auch die vorsichtige Frage, was man den aussetzen könne. «Habt ihr’s nicht geschmeckt?», ruft er mit einem Hauch Schadenfreude. «Das war eindeutig!» Stirnrunzeln. Die Coulis sei versalzen gewesen, und auch nicht passiert. Aha. Die Frauen probieren vom letzten Teller auf dem Tisch und suchen angestrengt nach zu viel Salz.
Dann folgt die Suppe. «Rindskraftbrühe mit pochiertem Eigelb, darauf Blätterteiggebäck mit Mohnsamen», so Thomas Schaad. Schnell tauchen Löffel in die Suppenschüssel. Hier, sind sich die Esserinnen einig, sei alles in bester Ordnung. Oder doch nicht? Fragende Blicke gehen zum Chefkoch, der gerade aus der Küche kommt: «Viel zu hell; eine Rindskraftbrühe muss goldbraun sein – und aromatisiert.» Kocht Esteban also doch nicht so souverän, wie seine Verwandtschaft meint? Oder ist der Chef heute bloss besonders kritisch, meint es nur gut mit dem Prüfling?
Dritter Gang: Alles in Butter
Es folgt das Fischgericht: «SeezungenPaupiettes mit Spinat, dazu Venerereis, Curryrahmsauce, Spargeln und gebackene Cherry-Tomaten» – allein der Name verspricht Hochgenuss. Zeit, einen Blick in die Küche zu werfen. Wie geht es denn dem, um den es hier geht?
Esteban steht unter dem Dampfabzug und schlägt eine Sauce Bernaise. Der Chef assistiert. Das sei auch bei der Prü- fung erlaubt, meint er, solange der Kandidat selber um Hilfe bitte. Esteban sei die Butter zu heiss geworden, das könne schon mal passieren. «Was, wenn die Sauce scheidet?», will er vom Lehrling wissen. Der grinst nur: «Päckli mit Pulver holen», und schwingt weiter den Quirl. Wein beigeben, so sein Chef ernst, sei die Lösung. Die Butter ist eingerührt, Esteban macht sich ans Abschmecken. Dann schüttet er die Pasta ab – selbstgemacht, versteht sich.
Auf einmal kommt Thomas Schaad aus der Küche und erkundigt sich nach der Garstufe: «Blutig, à point, bien cuit?» Als Hauptgang nämlich, verrät der Chef, winke ein Entrecote.

Vierter Gang: der richtige Biss
Auch wenn der Hauptgang für Veganerin Sarah reduziert ausfällt, reibt sie sich die Hände beim Anblick von Pasta und Gemüsebouquet. Schnell leert sich der Teller. Auch die Sauce Bernaise, eben noch von Lehrling und Meister sämig geschlagen, überzeugt.
Die Ernüchterung: Das Fleisch ist zwischen halbgar und gut durch. Doris Kirchner verteidigt ihren Enkel. In einem Altersheim dürfe ja alles nie zu viel Biss haben. Auch wenn das Essen im Alter einen sehr hohen Stellenwert habe.
Doch wie ist es, im Altersheim zu kochen? Nachfrage bei Esteban. Ja, es stimme, dass hier alles immer schön weichgekocht sein müsse. Ausserdem seien die Leute nicht so offen für neue Kochexperimente, wollten essen, was sie noch von früher kennen. Und dennoch spricht viel dafür, als Koch im Altersheim zu arbeiten: Hier verlangt niemand um 2 Uhr morgens noch einen Imbiss. Auch hat man Zeit für die Betreuung der Lernenden. Und das wiederum scheinen die Lernenden zurückzugeben. Erkundigt man sich jedenfalls im Alterszentrum Alenia nach Esteban Gonzalez, kommt nur Lob zurück.

Fünfter Gang: Heimatsuche
Gross ist die Überraschung, als Esteban persönlich das Dessert serviert – Flammeri mit Erdbeeren und dazu Brownies – und seine Schwester begrüsst. «Hola, qué tal?» – «Bien, y tú?» Beide sind in Mexiko aufgewachsen, nachdem die Liebe ihre Mutter dorthin gebracht hatte. Inzwischen sind beide wieder in der Schweiz, sie fühlen sich wohl hier.
Dennoch drängt sich eine Frage auf: Müsste er, Esteban, als angehender Koch mit mexikanischen Wurzeln nicht die Küche seines Heimatlandes pflegen? «Doch sicher», gibt er zurück und schiebt sich verlegen die Mütze zurecht. Aber genau diese Küche kenne er ja nicht. Dann stellt er klar: «Tacos, Fajitas, Chili con Carne – das ist kein mexikanisches Essen!» Für das müsse man schon nach Mexiko reisen. Schwester Sarah pflichtet ihm bei: «Alle unsere ‹Salsas›, die wir zum Würzen nehmen, bringen wir aus den Ferien in Mexiko mit. Die bekommt man hier nicht.» Und so ist auch Estebans Plan entstanden, nach der Lehre sein Heimatland zu bereisen. Mexikanischen Street-Food will er kennenlernen, überall im Land.
Schluss: Kaffee mit Esteban
Nach dem Dessert wird es langsam Zeit. Noch einen Kaffee, dann muss Esteban seinen Arbeitsplatz putzen. Ist er jetzt aufgeregt, kurz vor der Abschlussprüfung? «Nein. Eher gespannt, auf das was kommt.» Wird er das Alterszentrum Alenia vermissen? «Bestimmt. Vor allem die freundlichen Leute und das Team, das sich um die Lehrlinge kümmert.» Und nach seiner Reise, in welche Küche zieht es ihn dann? «Ich will mich selbstständig machen, mit einem eigenen Konzept», sagt er verschmitzt. Mehr wolle er lieber nicht verraten. Nur so viel: Der Gast solle nicht bekommen, was er wolle, sondern, was er brauche. Eine gewagte Idee. Dass Esteban sie umsetzt, glaubt man ihm trotzdem. Dass er nicht aufgeregt ist, auch. Esteban geht seinen Weg.
Paul Drzimalla