Eine Stadtbernerin durch und durch

Seit ein paar Monaten wohnt Julia Schwander im Alterszentrum Alenia – und damit erstmals in ihrem Leben etwas ausserhalb der Stadt Bern. Die 88­-Jährige hat dort einiges erlebt: Auf der Münsterplattform veranstaltete sie mit ihren Freundinnen manchmal einen ungewöhnlichen Wettkampf.

Steckbrief

Name: Julia Schwander
Alter: 88 Jahre
Aufgewachsen in: Bern
Beruf: Verkäuferin
Im Alterszentrum Alenia seit: November 2018

Guten Tag, wie geht es Ihnen heute?
Ich fühle mich gut. Ich sehe von meinem Zimmer aus direkt auf die Baustelle und kann die Fortschritte beobachten; das ist interessant.

Warum sind Sie gerade im Alterszentrum Alenia?
Nach einer Knieoperation war ich im Siloah zur Rehabilitation. Da die Operation nicht wie gewünscht verlaufen ist, bin ich bis heute eingeschränkt in meiner Bewegung. Die Risiken einer weiteren Operation will ich aber nicht auf mich nehmen. Mit dem Ist-Zustand kann ich leben. So war bald einmal klar, dass ich nicht mehr in meine Wohnung zurückkehren kann. Ich zog ins Alenia um und habe mich hier gut eingelebt. Vor dem Spitalaufenthalt wohnte ich in einer Einzimmerwohnung der Münstergemeinde. Tagsüber hätte ich dort Betreuung gehabt, aber vor allem nachts wäre ich alleine gewesen, davor hatte ich Angst.

ns, Nicole Stadelmann, Fotografie, Bern

Was vermissen Sie im Alenia?
«Mein» Bern, die Aare und den «Märit». Ich kaufte immer sehr gerne auf dem Wochenmarkt ein. Zudem war ich eine begeisterte Aareschwimmerin. Bis zu meinem 70. Lebensjahr ging ich regelmässig in der Aare schwimmen.

Was gefällt Ihnen hier besonders und was weniger?
Mir gefällt es hier gut. Ich kann mich an den gedeckten Tisch setzen und das Essen geniessen. Wenn ich Unterstützung brauche und klingle, weiss ich, dass eine Pflegeperson kommt. Das ist nicht überall so. Dadurch fühle ich mich gut aufgehoben. Allerdings fehlt mir die eigene Nasszelle sehr.

Was würden Sie in Ihrem Leben anders machen, was nie mehr?
Ich bin in der Gerechtigkeitsgasse 27 in der Berner Altstadt geboren und aufgewachsen. Heute gibt es in der Berner Altstadt fast keine Familien mehr mit Kindern, da die Umgebung nicht gerade kindgerecht ist. Ich aber habe schöne Erinnerungen an meine Kindheit. Die Schule besuchte ich zuerst in der Postgasse, danach in der Matte. Nach dem obligatorischen Schulunterricht und einem Haushaltlehrjahr in La Chaux-de-Fonds trat ich in der Migros-Filiale an der Spitalgasse die Verkaufslehre an. Durch Weiterbildungen konnte ich zur Filialleiterin aufsteigen. In der Migros arbeitete ich bis zur Geburt meiner Tochter. Mein Mann und ich kannten uns bereits aus der Schulzeit. Er war der Bruder meiner besten Freundin.

An einem jährlich stattfindenden Fest der Metzgerei Bell hat es dann «gefunkt». Im August 1953 heirateten wir in der Nydeggkirche und gründeten danach unsere Familie. Wir bezogen eine Wohnung im 4. Stock in meinem Elternhaus an der Gerechtigkeitskasse und bekamen eine Tochter und einen Sohn. Heute bin ich stolze Urgrossmutter von 12 Urenkeln. Mein Mann verstarb leider sehr früh. Die Wohnung wurde für mich im Laufe der Zeit zu gross und ich suchte nach einer neuen Bleibe. Nach 74 Jahren an der Gerechtigkeitsgasse zog ich 2005 in eine Wohnung in der Nähe des Historischen Museums. Ich fühlte mich dort wohl und liebte den dazu gehörenden Garten sehr. Ich würde nichts ändern an meinem Leben. Ich finde, dass wir es schön hatten. Heute geniesse ich die Besuche meiner Kinder und unseren Familienzusammenhalt.

Was ist Ihre liebste kulturelle Beschäftigung?
Ich beschäftige mich am liebsten mit meinen Handarbeiten; ich stricke sehr gerne. Heute vorwiegend Socken und Waschlappen. Früher war ich zusammen mit fünf Frauen in einem «Strickclub». Bei schönem Wetter trafen wir uns regelmässig auf der Münsterplattform zum Wettstricken.

Mit was kann man Ihnen Freude bereiten?
Mit einem Besuch auf dem «Märit z’Bärn».

Welche Lebenswünsche sind in Erfüllung gegangen, welche nicht?
Ich habe keine unerfüllten Wünsche. Bis heute bin ich sportbegeistert und ein grosser Fan der Berner Young Boys. Als Kind besuchte ich mit meinem Vater jeweils die letzte Viertelstunde der Heimspiele im Wankdorfstadion. Für diese Zeit musste kein Eintritt mehr bezahlt werden. Beim Cupfinal setzten wir uns mit einem Picknick auf den Stadionvorplatz und nahmen so möglichst viel von der Atmosphäre auf. Heute setze ich mich vor den Fernseher, um Roger Federer spielen zu sehen.

Ein Highlight im Winter ist jeweils die Männerabfahrt am Lauberhorn. Wengen und das Berner Oberland kennen wir von unseren Ferien mit den Kindern. Schöne Erinnerungen habe ich an unsere Ausflüge auf den Gurten. Wenn ich mit meinem Vater jeweils die Wanderung auf den Berner Hausberg geschafft hatte, gab es als Belohnung ein Glas Sirup mit einem «Röhrli». Der Sirup war für mich nicht das Spezielle, über das «Röhrli» freute ich mich aber immer wieder aufs Neue. Ich war viel mit meinem Vater unterwegs, da meine beiden Geschwister mehr als 10 Jahre älter waren.

Was möchten Sie unbedingt noch erleben?
Die Geburt meines 13. Urgrosskindes, welche für August geplant ist.

Was könnten junge Menschen von Ihrer Generation lernen?
Sparen und ihre Aktivitäten besser einteilen. Ich habe oft zu meinen Kindern gesagt: «Wir wurden früher müde vom Arbeiten, ihr werdet müde von der Freizeit.»

Monika Di Girolamo