Die Zeit der Erwartungen

Weihnachten ist eine besondere Zeit: Für die einen Stress, für die anderen Höhepunkt des Jahres, für viele beides. Im Gespräch machen sich die Pfarrerinnen Ella de Groot und Brigitte Frey Gedanken über die Weihnachtszeit und gehen der Frage nach, was Weihnachten besonders macht.

Oft wird behauptet, Weihnachten fange von Jahr zu Jahr früher an. Beobachten Sie das auch?
Brigitte Frey (BF): Ich habe immer das Gefühl gehabt, es habe jeweils im November angefangen, und jetzt sind die Läden schon im Oktober weihnächtlich aufgemacht.
Ella de Groot (EG): Ist das wirklich so? Ich selber habe mir Weihnachten noch nie in die Agenda eingetragen.

Sie bereiten sich persönlich also nicht auf Weihnachten vor?
EG: Spirituell nicht.
BF: Ich auch nicht. Vorbereiten musste ich mich jeweils auf Gottesdienste, Andachten und Weihnachtsfeiern, und das schon im Oktober. Im Berner Oberland, wo ich lange tätig war, nennt man Weihnachten auch den «Pfarrerhöiet».
EG: Eine witzige Bezeichnung, die stimmt. Ich denke zu Weihnachten jeweils an all die Leute, die ich noch besuchen will, und dann wird die Liste länger und länger.
BF: Man hat den Anspruch, vor Weihnachten besonders viel Zeit zu haben und Menschen zu besuchen, die sich einsam fühlen oder traurig sind. Aber man schafft es einfach nicht.
EG: Das ist für mich der Frust von Weihnachten.

Das klingt sehr ernüchternd. Was macht Weihnachten für Sie überhaupt besonders?
EG: Es ist die Tradition. Und es sind die Erinnerungen, die man im Rückblick häufig auch verklärt. Man denkt daran, als alle noch zusammen waren, als der Ehemann noch gelebt hat, die Mutter den Baum geschmückt hat…
BF: Weihnachten ist eine Zeit, die sehr sinnlich gestaltet wird. Draussen ist es finster, und gleichzeitig sind überall Lichter, Weihnachtsmusik und Düfte; es werden Güetzi gebacken.

Ella de Groot kam 1987 aus den Niederlanden in die Schweiz. Seit 2005 ist sie Pfarrerin im Kreis Seidenberg der reformierten Kirchgemeinde Muri-Gümligen.

Sie haben vom Verklären geredet. Kann man sagen, Weihnachten sei eine verzauberte Zeit?
BF: Ich kann mit Weihnachtsschmuck und dem ganzen Rummel persönlich nicht viel anfangen. Trotzdem merke ich, wie es mich immer wieder berührt. In meiner Zeit im Gemeindepfarramt haben wir jeweils Adventsfenster organisiert. Jeden Abend sind Menschen zusammengekommen und haben Lieder gesungen. Das war eine schöne Zeit, trotz der vielen Arbeit.

Rituale machen also Weihnachten zu etwas Besonderem?
EG: Es ist auch die finstere Zeit und der Jahreswechsel. Weihnachten ist die Zeit, in der man zurückblickt.

Erleben Sie Weihnachten denn heute anders als früher?
BF: Für mich ist es anders als als Kind. Mein Mann und ich haben keine Kinder und haben deshalb die Traditionen aus unserer Kindheit kaum weitergeführt. Natürlich feiern wir mit unseren Familien, aber das ist anders.

Oft wird beklagt, Weihnachten werde immer kommerzieller. Erleben Sie das?
EG: Die Kommerzialisierung geht an mir vorbei. Ich meide die Stadt zu Weihnachten, wenn möglich. Ich kenne das auch nicht aus meiner Kindheit. In Holland kommt «Sinterklaas» am 5. Dezember und bringt Geschenke. Weihnachten selbst ist bei den Calvinisten völlig geschenkelos. Das habe ich immer sehr geschätzt; meine Familie war nie im Geschenkerausch.

Aber dem Kommerz gehen Sie trotzdem aus dem Weg?
EG: Ich habe das einfach nicht gern.
BF: Es ist zu viel des Guten, ich suche es nicht. Ich bin froh, dass wir in der Familie wichteln: Da denke ich mir für eine Person ein schönes Geschenk aus. Das entlastet mich. Wenn ich aber an meine Gottenkinder denke, holt mich der Kommerz ein. Die haben schon alles und erwarten trotzdem noch etwas Neues.

Stellen Sie denn bei den Personen, mit denen Sie zu tun haben, einen vorweihnachtlichen Stress fest?
EG: Ja, doch der hat weniger mit dem Kommerz zu tun, als vielmehr mit Erwartungen. Man erwartet, dass es gemütlich und harmonisch ist, dass man Zeit füreinander hat. Solche Erwartungen können fast nur enttäuscht werden. Diese Erwartungshaltung spüre ich im Alterszentrum: Da weiss eine Bewohnerin, dass sie über Weihnachten im Heim bleiben wird, während ihre Nachbarin vom Sohn nach Hause geholt wird. Das ist ein anderer Stress als beim Geschenkekaufen, aber es ist dennoch Stress.
BF: Ich finde, dass auch die Mitarbeitenden und die Besucher Stress von aussen hineintragen. Sie sind angespannt, müssen dieses und jenes noch erledigen. Dann besuchen sie ihre Angehörigen, finden vielleicht obendrein noch keinen Parkplatz und erzählen, was sie alles noch tun müssen. Das bringt den Stress. Doch gerade in einem Pflegeheim auf einer Demenzgruppe braucht man Zeit. Hektik verträgt sich da ganz schlecht.

Abgesehen von der Betriebsamkeit kann Weihnachten auch die Zeit der Trauer sein. Lässt man dann eher Trauer zu?
BF: Ich denke schon, gerade bei älteren Leuten, die zurückblicken und sich an die Weihnachtsfeste erinnern, als sie noch Kinder waren oder selber Kinder hatten. Diese Leute werden sich dann bewusst, wer alles nicht mehr da ist. Das führt natürlich zu Wehmut und Trauer.
EG: Es fängt vor dem ersten Advent an, am Totensonntag. Man ist schon in einer Stimmung, in der man über den Tod nachdenkt. Man vermisst die Angehörigen, und dieses Vermissen wird bis Weihnachten immer intensiver. Dazu kommen im Alterszentrum immer Fragen wie: «Was kommt jetzt? Erlebe ich das nächste Weihnachten noch? Erleben wir es noch gemeinsam?» Das ist ein Prozess des Loslassens.

Das klingt, als sei Weihnachten eine schwierige Zeit.
BF: Nicht nur. Es ist eine Zeit, die man sehr schön gestalten kann. Singen, Sterne basteln, Glühmost trinken – es sind so viele gemeinsame Aktivitäten möglich. Das sehe ich als Ressource.
EG: Obwohl das lange nicht alle wollen. Mein Vater beispielsweise will weder basteln, noch backen, noch Glühwein trinken. Der zieht sich zurück. Das Gesellige der Weihnachtszeit drängt diejenigen, die es nicht so schätzen, in noch grössere Melancholie und Einsamkeit.

Gibt es denn Personen, die souveräner mit Weihnachten umgehen als andere?
EG: Ja, diese Personen gehen aber auch souveräner mit dem Altwerden oder dem Alleinsein um. Das tun sie nicht nur an Weihnachten, sondern auch am Geburtstag der verstorbenen Partnerin. Bei manchen beginnt die Trauer schon zwei Monate vor dem Geburtstag und wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Andere haben eine Art, mit ihr umzugehen, die für die Aussenwelt einfach erscheint.

Brigitte Frey wirkt seit 20 Jahren als Pfarrerin im Kanton Bern. Seit Mai 2014 ist sie im Alterszentrum Alenia in der Heimseelsorge tätig.

Kann einem Weihnachten etwas Positives geben, das auch im Januar noch Bestand hat?
EG: Eine Frau aus meinem Gesprächszirkel hat gesagt, sie denke zu Weihnachten an alle, die im alten Jahr ein Baby bekommen haben. Denen schreibt sie oder macht ihnen ein kleines Geschenk. Wir haben dann weiterfantasiert, dass wir im nächsten Jahr alle einladen könnten, die ein Kind bekommen haben, oder deren Kind getauft wurde. So würden wir im Winter, wenn alles leblos scheint, das neue Leben feiern.
BF: Weihnachten ist auch eine Zeit, die bei vielen die Sehnsucht nach Frieden und nach Gerechtigkeit weckt. Es wäre schön, wenn wir diese Sehnsucht mit ins neue Jahr nehmen und uns dort, wo wir leben, für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Gott möchte uns darin begleiten und ermutigen.

Ist Weihnachten nicht auch die Zeit des Gemeinsamen, das man sonst nicht mehr pflegt?
BF: Weihnachten ist dasjenige christliche Fest, das man in der Familie feiert. Das ist bei keinem anderen Feiertag so und es hat sich auch erst in den letzten 200 Jahren so entwickelt. Vorher war Weihnachten ein rein kirchliches Fest.
EG: Ich denke, der Wunsch nach Gemeinschaft hängt mit etwas zusammen, das du vorher erwähnt hast, Brigitte: mit dem Wunsch nach Heil und nach Frieden. Die «heile Welt» kann man in der Gemeinschaft erleben, seien dies Freunde oder Familie. Weil der Wunsch danach um den Jahreswechsel so stark ist, entsteht automatisch das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Du sagst richtig: Wir müssten diese Sehnsucht mitnehmen. Denn eigentlich sollten wir auch im Mai noch über Sehnsüchte reden. Man müsste eine Studie machen: Reden wir im Mai auch darüber, wie wichtig unsere Familie ist?
BF: Wir könnten über das Jahr hinweg einen Stationenweg zum Thema Sehnsüchte machen.
EG: Wie gesagt: Ich denke, es besteht ein Zusammenhang zwischen der Suche nach Gemeinschaft und der Sehnsucht nach Heil. Wir suchen über Weihnachten nicht das Gemeinsame, weil wir uns über das Jahr hinweg nicht sehen – der Auslöser ist die Sehnsucht nach Heil.

Fällt es denn der Kirche einfacher, in der Adventszeit den Zugang zu den Menschen zu finden, gerade wenn diese sich nach Heil sehnen?
BF: Ja, im Advent erreicht man mit dem kirchlichen Angebot mehr Menschen als sonst. Als ich noch im Oberland war, habe ich immer gestaunt, wer da alles den Weihnachtsgottesdienst besucht hat.
EG: Im Berner Münster merkt man das auch. Dort kommen Familien mit ihren Kindern an Weihnachtsgottesdienste, um die besondere Stimmung zu erleben. Diesen Familien würde sonst etwas fehlen.

Also hat die Kirche immer noch ein «Monopol» auf Weihnachten, trotz aller Kommerzialisierung?
BF: Das nimmt ab. Aber es ist sicher immer noch für viele wichtig, den feierlichen Teil von Weihnachten zu bewahren und ihn liturgisch zu gestalten. In der Familie verlieren viele das entsprechende Know-how, da bietet sich der Gottesdienst an. In Reichenbach haben wir am Nachmittag des 24. Dezembers einen Gottesdienst für Familien gefeiert. Danach sind die Familien jeweils nach Hause gegangen, haben zu Abend gegessen und Geschenke verteilt. Der Gottesdienst wird so ein Teil ihres Weihnachten, und das finde ich schön.
EG: Es geht auch um die Frage, wie man Weihnachten beginnt. Sagt man «Jetzt weihnachten wir»? Wenn man da eine Handreichung bekommt, nutzt man die gerne. Das kann ein Gottesdienst bieten; bis dieser beginnt, ist Alltag.

Ist Weihnachten somit eine Art kultureller Nullpunkt, wo sich alle nach dem Gleichen sehnen?
EG: Was ist denn dieses «Gleiche»? Viele fliegen ja nach Spanien oder nach Miami, um genau dem zu entfliehen. Also was ist es dann? Ich denke, diese Einschätzung ist zu positiv. Und wenn die Erwartung, das «Gleiche» zu erleben, in der Luft liegt, ist der Stress vorprogrammiert.
BF: Und dennoch ist das Weihnachtsfest eine Tradition, die vielen vertraut ist. Es ist sehr verbindend, nicht für alle, aber für einen grossen Teil der Menschen. Selbst wenn es nur die Eltern sind, die sich wünschen, dass die ganze Familie zusammenkommt.
EG: Es ist eigentlich verrückt: Irgendwo zwischen Ende Dezember und 1. Januar besteht die Möglichkeit, dass alle zusammen sind. Warum muss das so sein?

Es funktioniert jedenfalls meistens – wenn auch nur für einen kurzen Moment: am Tisch, um den Baum, da herrscht Harmonie.
BF: Harmonie ist ein schwieriges Wort. Es gibt Familien, die das Gemeinsame pflegen und sich auch mit schwierigen Themen auseinandersetzen. Dann gibt es Familien, die überfordert sind, wenn sie so eng zusammen sind. Da brechen dann Konflikte auf.

Haben Sie einen persönlichen Wunsch für Weihnachten?
BF: Ein grosser Wunsch ist, dass wir in Europa und in der Schweiz eine Form finden, mit Flüchtlingen offen und menschlich umzugehen und sie willkommen zu heissen. Damit hängt auch der Wunsch nach Frieden in Syrien, Libyen und Afghanistan zusammen.
EG: Mein Wunsch geht in eine ähnliche Richtung. Weihnachten ist für mich das Fest des Kleinen, des Neubeginns. Was braucht es, damit sich junges Leben entwickeln kann? Stellen wir uns ein Kind vor, das auf die Welt kommt: Was für eine Welt bieten wir diesem Kind? Alles muss immer grösser, glänzender, teurer sein. Diese Spirale geht auf Kosten von so vielem. Mein Wunsch ist, dass wir uns das vor Augen halten und entsprechend handeln. Denn wir sind selbst verantwortlich dafür, dass sich die Spirale immer weiterdreht.
BF: Weihnachten heisst ja auch, dass Gott uns in unserem Menschsein berührt, und er uns so nahe kommt, dass er selber Mensch wird. Wieso achten wir das Leben, das uns geschenkt ist, nicht mehr?
EG: «Achtsamkeit» ist das richtige Wort.

Das sind berührende Wünsche. Welche abschliessenden Gedanken möchten Sie mitgeben?
EG: Vor Kurzem hat jemand zu mir gesagt: «Wem es durch das Jahr gut geht, dem geht es zu Weihnachten auch gut. Wem es aber schlecht geht, spürt das zu Weihnachten noch stärker als sonst.»
BF: Im Alterszentrum hat jede Bewohnerin und jeder Bewohner eine Bezugsperson, und die überreicht ein persönliches Geschenk. Die Angehörigen dürfen dabei sein, was sehr geschätzt wird. Man tut alles, um Weihnachten so vertraut wie möglich zu machen. Das finde ich schön.

Paul Drzimalla

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