Ab wann ist die Arbeit getan?

Wenn die Pensionierung vor der Tür steht, kann viel passieren. Nirgends lässt sich das besser beobachten als in einem Alterszentrum. Zwei Beispiele aus dem Alterszentrum Alenia zeigen, was möglich ist.

Die 14 Personen, die im Erdgeschoss des Hauses Nussbaumallee im Halbkreis sitzen, blicken gespannt in eine Richtung: Elisabeth Schaad nimmt die Gitarre zur Hand. Etwas verschmitzt fragt sie in die Runde: «Sehnen Sie sich auch nach dem Frühling?» Da und dort ein Nicken. Während draussen noch winterliche Stimmung herrscht, stimmt Elisabeth Schaad das nächste Lied an: «L’inverno è passato». Schwache und stärkere Stimmen aller Tonlagen heben im Chor an, begleitet von der Aktivierungstherapeutin und ihrer Gitarre. Nach ein paar Takten unterbricht sie: «Jetzt müssen wir den Kuckuck machen.» Ein Lachen geht durch die Runde – gemeint ist der Refrain. Die Gruppe singt weiter und macht munter den Kuckuck.

Für Elisabeth Schaad zählt es, bei der Arbeit etwas weiterzugeben. Auch nach der Pensionierung will sie mit Menschen arbeiten.

Wer sieht, wie Elisabeth Schaad an diesem Vormittag die Aktivierung leitet, kann sich nur schwer vorstellen, dass sie in einem halben Jahr pensioniert wird. Mit wachem Blick beobachtet sie die Mitglieder ihres Vormittagschors, versucht, einzelne Teilnehmer noch einmal zu motivieren, wenn die Energie nachlässt. Sie verteilt Blätter für das nächste Stück, unterstützt von einem Bewohner. «Danke, Herr Battaglia!» – Elisabeth Schaad kennt ihre Leute.

Ein Glückstreffer

Es muss anstrengend sein, so intensiv mit pflegebedürftigen Personen zusammenzuarbeiten und sie zu animieren. Ja, sagt Elisabeth Schaad, sie sei jeweils erschöpft, aber während der Arbeit merke sie nichts. «Das läuft einfach.» Ihr ist bewusst, was sie an ihrer Arbeit hat. Sie hat als Aushilfe im Alterszentrum Alenia begonnen und danach fast acht Jahre lang in der Wohngruppe für Demenzkranke gearbeitet. Später kam die Arbeit im Tagestreff hinzu. Die Mischung belastete sie zunehmend: «Ich habe mich nirgends mehr ausgekannt.» Elisabeth Schaad suchte das Gespräch und wechselte vor eineinhalb Jahren schliesslich ganz in die Aktivierung. «Das war ein Glückstreffer», erinnert sich die gelernte Bewegungs- und Tanztherapeutin. Sie habe kurz vor der Pensionierung noch einmal wechseln dürfen – hin zu der Beschäftigung, die ihr wirklich liege. «Ich habe mehr Zeit für die Leute», erzählt sie.

Sie fühlt sich nicht alt: Grazyna Czerwinski arbeitet auch nach der Pensionierung noch weiter.

Eines ist für Elisabeth Schaad jedoch klar: «Nach der Pensionierung ist mit dem Arbeiten Schluss.» Sie relativiert jedoch gleich: Das Märchenerzählen, eine Beschäftigung, die sie liebe, möchte sie gerne weiterbetreiben, vielleicht sogar ausbauen. Sie wird die Zusammenarbeit mit dem Team vermissen. Auch deshalb könne sie sich vorstellen, im freiwilligen Rahmen weiterzuarbeiten. Doch zunächst freue sie sich darauf, über ihre Zeit verfügen zu können: «Ich bin ein spontaner Mensch.»

Die Motivation muss stimmen

Hinsichtlich der eigenen Pensionierung sei im Alterszentrum Alenia fast alles möglich, was das Arbeitsgesetz erlaubt, bestätigt Katja Aufdenblatten. Sie leitet das Human-Resources-Team im Haus. Es gebe Mitarbeitende, die ihr Pensum gerne im Hinblick auf die Pensionierung reduzieren möchten oder wie Frau Schaad die Funktion wechseln. Andere würden mit dem Wunsch zu ihr kommen, nach der Pensionierung weiterzuarbeiten, teilweise auch im Stundenlohn. «Solche Lösungen sind immer ein Gewinn, denn sie entlasten die Teams bei Personalengpässen oder Krankheitsausfällen», erklärt Katja Aufdenblatten. Das Wichtigste sei immer, dass jemand gesund und arbeitsfähig sei, und es eine freie Stelle habe. Wesentlich sei auch, dass die Motivation vorhanden sei, eine Veränderung mitzutragen. Natürlich gebe es gemäss Katja Aufdenblatten auch Fälle, in denen jemand weiterarbeiten müsse, etwa weil die berufliche Vorsorge noch nicht reiche. «In diesen Fällen nehmen wir als Arbeitgeber bewusst eine soziale Funktion wahr.»

Wichtig bei allen Entscheidungen sei es aber immer, das ganze Team im Auge zu behalten. Eine komplexe Aufgabe, die ein genaues Bild über die rund 180 Mitarbeitenden erfordere. Auch aus diesem Grund ist die Tür zum Büro von Katja Aufdenblatten und ihrem Team immer offen. «Die Mitarbeitenden sollen gerne zu uns kommen. Und sie sollen ihre Anliegen vorbringen, bevor diese zum Problem werden.»

Eine gute Seele

Im zweiten Stock des Hauses Nussbaumallee korrigiert Grazyna Czerwinski die Frisur einer Bewohnerin. «Schöne Haare sind doch wichtig für uns Frauen. Nicht wahr, Frau Schüpbach?» Die beiden Damen schauen sich in die Augen und tauschen einen liebevollen Händedruck aus. Darauf verlässt Grazyna Czerwinski kurz das Zimmer und kommt mit einem Tablett zurück, darauf eine Tasse Kaffee und eine Caramelcreme. «Zwei Stück Zucker und Milch. Das stimmt doch, oder?» Ein Nicken. «Eine Gute» sei sie, das hört Grazyna Czerwinski immer wieder. Auch heute stimmt die Chemie zwischen ihr und der Bewohnerin. Doch die beiden Frauen verbindet noch mehr: Sie sind im Pensionsalter.

Grazyna Czerwinski arbeitet weiter. Warum geniesst sie nicht den Ruhestand? «Ich werde noch gebraucht. Das ist ein sehr schönes Gefühl.» Im Zimmer ist es ruhig, nur das stete Ticken der Uhr ist zu hören. «Machen wir Musik?», fragt Grazyna Czerwinski. Sie startet das Kassettengerät und sofort erfüllen Erinnerungen an eine andere Zeit den Raum – Ländlermusik. Später erklärt Grazyna Czerwinski: «Das hier ist eben auch eine Endstation für die Leute. Sie brauchen etwas Freude, und für Frau Schüpbach ist das die Musik.»

Briefe aus der Zukunft

Als sie damals den Brief von der AHV erhalten habe, sei sie schockiert gewesen, erinnert sich Grazyna Czerwinski: «Ich habe mein Alter nicht akzeptiert.» Dabei ist sie selber sehr spät zum Alterszentrum Alenia gekommen, im Alter von 55 Jahren. Sie erinnert sich genau, wie man damals die elektronische Pflegedokumentation eingeführt hat: «Ich war nicht sicher, ob ich das schaffe. Und ich habe gedacht: Noch vier Jahre durchhalten!» Mittlerweile denkt sie anders. Sie schätzt die Motivation, die ihr die Arbeit gibt. Zu ihrem Glück kam ihr Arbeitgeber noch vor der Pensionierung auf sie zu und bot die Weiterarbeit im Teilpensum an. Den Brief von der AHV ignorierte sie.

Ja, die Briefe: Auch Katja Aufdenblatten schreibt sie an die Mitarbeitenden, jeweils fünf Jahre vor der Pensionierung. Eine Aufforderung, an die Zukunft zu denken, sei das, so Katja Aufdenblatten. «Und häufig kommt die Antwort: Das ist noch so weit weg.» Dabei sei es wichtig, sich früh mit der Zeit nach der Arbeit auseinanderzusetzen, also schon mit 50. So lasse sich herausfinden, was man im Beruf noch erreichen kann und will. «Der Fokus verschiebt sich immer mehr weg von der Planung der Pensionierung hin zu einer Karriereplanung 50plus.»

Immer nur Ferien

Grazyna Czerwinski geniesst die Zeit, die sie hat. Da sie ihr Pensum von 90 auf 40 Prozent reduziert hat, bleibt ihr Raum für Hobbys oder für Besuche bei ihrer Familie in Polen. Da kommt es vor, dass sich Bewohner nach ihr erkundigen, wenn sie längere Zeit abwesend ist. «Einmal hat ein Herr gefragt, ob ich nicht etwas faul sei, weil ich ja immer Ferien mache.» Nein, viele Bewohnerinnen und Bewohner wissen nicht, dass sie noch arbeite. Warum sollte Grazyna Czerwinski es auch herumerzählen? Schliesslich will sie noch so lange arbeiten, wie es geht. «Ich weiss, irgendwann ist das hier zu Ende.» Doch bis dahin sei es ihr Ziel, den Leuten Freude zu bereiten. Denn ein Leben ohne Freude, das sei wie ein Leben ohne Sonne.

Paul Drzimalla